Seminareinheit: Vorurteile

Seminareinheit

Vorurteile

Dauer: 240 min
Technische Voraussetzungen: je nach gestalterischer Umsetzung bspw. Smartphones oder Digitalkameras
Arbeitsmaterialien:

Kurzbeschreibung

Thema

In der Seminareinheit „Vorurteile“ setzen sich die Teilnehmer:innen mit ost-west-bezogenen Stereotypen und Vorurteilen auseinander, von denen Zeitzeug:innen der Dritten Generation Ostdeutschland berichten. Die Teilnehmer:innen reflektieren die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Stereotype und Vorurteile. Darüber hinaus tauschen sich die Teilnehmer:innen kritisch über Selbst- und Fremdwahrnehmungen zu ihrer eigenen Herkunft und die (möglicherweise) darauf bezogenen Stereotype und Vorurteile aus.

Didaktische Hinweise

Die Seminareinheit eignet sich als Themenschwerpunkt für einen gesamten Seminartag. Sie kann aber auch in der Kombination von nur ausgewählten Arbeitsphasen durchgeführt werden. Die Seminareinheit kann sehr kreativ gestaltet werden, wofür dann allerdings zusätzliche Zeit eingeplant werden sollte – bspw. zur Präsentation in der Arbeitsphase 2 oder als kreativer Tagesabschluss. Es können analoge oder digitale Gestaltungs- und Erzählmöglichkeiten genutzt werden. So eignen sich bspw. passend zur Quelle Fotografie insbesondere Comics, die auf Papier oder über gängige Comic-Apps gestaltet und erzählt werden. Statt einer klassischen Präsentation im Vortragsstil kann auch über Karikaturen, szenisches Spiel oder einen Podcast erzählt werden.

Lernziele

Die Teilnehmer:innen

  • setzen sich mit Stereotypen und Vorurteilen auseinander, von denen Zeitzeug:innen der Dritten Generation Ostdeutschland berichten.
  • reflektieren Selbst- und Fremdwahrnehmungen in Bezug auf ihre Herkunft.
  • reflektieren ihre eigenen Bezüge zu Ost- und Westdeutschland oder zu anderen stereotypen bzw. vorurteilsvollen Zuschreibungen.

Ablaufvorschlag

Arbeitsphase 1
  1. Der:Die Referent:in leitet in die Seminareinheit „Vorurteile“ ein – bspw:
  • Egal wie tolerant, weltoffen und aufgeklärt Menschen sind – von Stereotypen und Vorurteilen ist niemand ausgeschlossen. Das liegt daran, dass diese uns Menschen zunächst einmal helfen, uns in unserer Umwelt zu orientieren und die Fülle der ständig auf uns eintreffenden Informationen zu ordnen. Wir versuchen, mit Hilfe von Vorurteilen und Stereotypen Personen oder Situationen, die uns unbekannt sind, erst einmal „automatisch“ zu kategorisieren.
  • Wir kennen klassische Stereotype wie … (bspw. können genannt werden: „Deutsche sind pünktlich, essen gerne Sauerkraut, haben keinen Humor“ etc.) aus dem Alltag. Dabei wird mit einer Gruppe von Menschen eine bestimmte Eigenschaft assoziiert – normativ und verallgemeinernd. Stereotype können sich auf verschiedene Merkmale wie beispielsweise Geschlecht, Alter, (ethnische) Herkunft, religiöse Ansichten, sexuelle Neigungen, körperliche Merkmale oder auch Namen oder auf die Haarfarbe beziehen.
  1. Der:Die Referentin leitet nun auf die Teilnehmer:innen über: Wie steht es mit unseren eigenen Erfahrungen? Welche Stereotype oder Vorurteile sind uns bekannt? Welche hören wir bspw. in der Familie oder im Freundeskreis? Welche nutzen wir selbst? Darauf schauen wir in der ersten Arbeitsphase.
  2. Der:Die Referent:in gibt das Arbeitsblatt „Vorurteile: Begriffliches“ aus und bittet die Teilnehmer:innen, sich die Erläuterungen durchzulesen, die für sie wesentlichen Stellen zu markieren. Anschließend tauschen sie sich im Plenum kurz darüber aus, was sie ggf. ergänzen würden.
  3. Der:Die Referent:in teilt allen Teilnehmer:innen ein DIN A3-Blatt aus und bittet sie, ihren Stammbaum aufzuzeichnen: von den Großeltern (Wurzeln) über die Eltern (Stamm) zu den Kindern (Baumkrone) – soweit sie wissen.
  4. Wenn sie einverstanden sind, können sie auch den Geburtsort bzw. das Geburtsland dazu schreiben.
  5. Der:Die Referent:in schreibt die folgenden Fragen an ein Whiteboard oder auf ein Flipchart
    (Hinweis: Es ist wichtig, die Fragen so zu formulieren, dass auch Teilnehmer:innen, die wenig über ihre Familie wissen oder die nicht über sie reden möchten, die Möglichkeit haben, teilzunehmen.):
  • Gibt es über deine Heimat- oder Wohnregion stereotype Aussagen, Klischees oder Vorurteile? Welche sind das? Durch welche Bilder werden sie möglicherweise erzeugt oder weitergegeben?
  • Hast du selbst eine auf deine Herkunft oder auf deinen Wohnort bezogene Bezeichnung für dich? Wenn ja, welche ist das und was willst du damit ausdrücken?
  • Gibt es in deiner Familie oder in deinem Freundeskreis typische Aussagen bspw. über Ost- oder Westdeutschland (vielleicht aber auch über ein bestimmtes Stadtviertel, ein anderes Land etc.)? Und wenn ja, welche sind das? Woher kommen diese Aussagen und welchen Hintergrund haben sie?
  1. Der:die Referent:in bittet die Teilnehmer:innen, sich die Fragen durchzulesen und die Antworten in die passenden Ebenen des Stammbaumes auf das A3-Blatt zu schreiben:
  • Antworten, die sich auf ihre eigene Person beziehen, in die Ebene der Baumkrone;
  • Antworten, die die Eltern/Erziehungsberechtigten betreffen, werden in die Ebene des Stamms geschrieben und
  • Antworten mit Bezug zu den Großeltern in die Ebene der Baumwurzeln.
  1. Anschließend können die Teilnehmer:innen ihr Plakat in der Gruppe vorstellen. Auf ein ausführliches Feedback oder Austausch über die verschiedenen Erfahrungen sollte zu diesem Zeitpunkt noch verzichtet werden. Hinweis: Aufgrund des sehr persönlichen Themas sollen nur die Teilnehmer:innen vorstellen, die das selbst wollen.
Arbeitsphase 2
 

  1. Der:Die Referent:in legt die Fotoauswahl zur Seminareinheit vor den Teilnehmer:innen aus (jeweils die Fotos eines:einer Zeitzeug:in nebeneinander) und informiert lediglich darüber, dass es sich um private Alltagsfotografien aus den 1980er- und 1990er-Jahren handelt.
  2. Der:Die Referent:in bittet die Teilnehmer:innen, Arbeitsgruppen von 3 – 5 Personen zu bilden.
  3. Der:Die Referent:in bittet die Arbeitsgruppen:
  • Sucht aus den vorliegenden Fotografien zwei Bilder von einem:einer Zeitzeug:in aus, die euch intuitiv ansprechen.
  • Notiert in Stichpunkten, was ihr auf euren Fotos seht und formuliert eine Vermutung über die Situation, in der die Bilder entstanden sein könnten.
  • Sucht anschließend auf den Fotos Inhalte oder Merkmale, die Stereotype oder Vorurteile hervorrufen könnten – wie bspw. die Abbildung eines teuren Autos, das sich nicht jede:r leisten könnte; eine Straßenszene, in der sich Menschen in einem Demonstrationszug und als Sicherheitskräfte gegenüberstehen; eine bestimmte Wohngegend, die auf den sozialen Hintergrund der Bewohner:innen schließen lässt.
  1. Nun stellt der:die Referent:in den Arbeitsgruppen die jeweilige Fotoauswahl sowie das passende Arbeitsblatt (z. B. „Nr. 1: Marco“) zur Verfügung und bittet sie, die darauf gestellten Aufgaben zu bearbeiten:
  • Lest die Auszüge aus dem Interview mit dem:der Zeitzeug:in.
  • Setzt darin die Suche nach Stereotypen oder Vorurteilen (positive wie negative) fort. Welche könnt ihr herauslesen?
  • Zieht nun die Kurzbiografie des:der Zeitzeug:in auf dem Zeitenwende-Lernportal hinzu. Findet darin mehr Informationen über die Lebenshintergründe des:der Zeitzeug:in zum jeweiligen Zeitpunkt, als die Fotografien entstanden sind. Lassen sich daraus die von dem:der Zeitzeug:in geäußerten oder erfahrenen Stereotype oder Vorurteile erklären – und falls ja, inwiefern?
  • Vergleicht im Anschluss eure Suchergebnisse: Wo gibt es Übereinstimmungen, wo gibt es Unterschiede zwischen eurer Wahrnehmung der Fotografien und der Schilderung des:der Zeitzeug:in zu den abgebildeten Situationen? Worin könnten die Unterschiede begründet liegen?
  • Notiert zuletzt eine Vorurteilserfahrung des:der Zeitzeug:in, die mit seiner:ihrer Umbruchserfahrung als Ostdeutsche:r in einem direkten Zusammenhang steht. (Möglicherweise entdecken die Teilnehmer:innen weitere oder andere Stereotype und Vorurteile):
Bildauswahl des:der Zeitzeug:in Mögliche Antworten
Die Bilder von Marco vom Abschlussball und Jugendweihe (Foto 1: Marco 041, Foto 2: Marco 042, Foto 3: Marco 044): –        Am Beispiel, Bekleidung „entlang der Möglichkeiten, die wir nach der Wende hatten“ zu wählen, spricht Marco die Erfahrung an, dass Menschen aufgrund des Kleidungsstils einem bestimmten sozialen Status zugeordnet und darüber bewertet werden. Die „Möglichkeiten“ für ostdeutsche Eltern in den 1990er-Jahren, ihre Kinder entsprechend den westlichen Trends einzukleiden, damit „man in der Schule nicht unbedingt gerade schief angeschaut wurde“, waren in Ostdeutschland aber beschränkt durch die weitverbreitete Arbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung und die dadurch stark beschränkten finanziellen Ressourcen (Hintergrund: Binnen ein, zwei Jahren waren in Ostdeutschland mehr als 1 Million Menschen arbeitslos geworden. Bis Mitte der 1990er war jede:r Fünfte davon betroffen.).–        Entscheidend war nicht der Modegeschmack, sondern ob man sich die erwartete Bekleidung leisten konnte. Dass an die Wahl des Kleidungsstils die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe/Status oder aber der Ausschluss aus einer Gruppe (indem man „für die „falschen Klamotten“ gehänselt“ wird) gebunden wurde, war in den 1990er-Jahren für ostdeutsche Jugendliche (und ihre Eltern) eine neue und weitverbreitete Erfahrung. Zwar gab es auch schon in der DDR Jugendkulturen, die sich durch äußere Merkmale bestimmten. Neu war nun die Diskriminierungserfahrung aufgrund einer „niedrigen“ sozialen Herkunft.

–        Am Beispiel des Leistungsdrucks, den Marco von einigen Lehrer:innen in der Nachwendezeit erfuhr, macht er deutlich, wie die Abstiegsangst der Elterngeneration ungefiltert auf die Kinder und Jugendlichen übertragen wurde. Die Abstiegsangst resultierte aus der Erfahrung von Millionen Ostdeutschen, mit ihrer bisherigen Berufserfahrung auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt keinen Platz zu finden und arbeitslos zu werden. (Hintergrund: 1990 bis 1995 haben ca. 80 Prozent der erwerbstätigen Ostdeutschen ihren Arbeitsplatz vorübergehend oder dauerhaft verloren, denn: Die ehemaligen DDR-Großbetriebe waren binnen weniger Jahre aufgelöst worden oder zumindest zu kleinen oder mittelgroßen Unternehmen geschrumpft.)

–        Marcos Erfahrung umfasst aber auch den bereits verinnerlichten Erwartungsdruck zur Anpassung an die neue westdeutsche „Normalität“, in der es „ab jetzt (…) für eine Eins 105 Prozent“ Leistung brauchte. Marcos Beispiel verdeutlicht, wie die Abstiegsängste und -erfahrungen der erwachsenen Ostdeutschen bei vielen von ihnen zu einem Gefühl der allgemeinen Abwertung ostdeutscher Biografien und Erfahrungen gegenüber der westdeutschen „Normalität“ führten. Das Beispiel macht auch deutlich, dass die Tatsache, ostdeutsch zu sein, bedeuten konnte, automatisch einer bestimmten sozialen Kategorie zugeordnet zu werden.

Das Bild von Katharina im Garten, mit Mann mit Gitarre (Foto 1: Katharina 010): –        In Katharinas Erzählung über den Beruf ihres Vaters als katholischer Diakon drücken sich ihre Erfahrungen
aus, als Kind im ihrem schulischen/gesellschaftlichen Umfeld anders zu sein oder als anders gesehen zu werden. Sie schildert zwei Lebenswelten: Die im katholischen Elternhaus und der katholischen Sozialisation und die der sie umgebenden Freunde, Schule, Lehrerschaft in der „vorherrschenden Normalität“.
–        Auch wenn in ihren Schilderungen keine konkreten Erinnerungen an Stereotype oder Vorurteile aufgrund ihres Glaubens und der außerhalb der „Norm“ und Kenntnis ihres Umfeldes liegenden Lebensweise formuliert werden, geht aus ihnen doch hervor, dass sich Katharina „automatisch angepasst“ und im schulischen Freundeskreis „auch bestimmt ein paar Sachen weniger erzählt“ hat. –        Als Katholik:innen sind Katharina und ihre Familie in doppelter Weise eine Minderheit in Ostdeutschland: Seit der Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts überwiegt der Protestantismus in Ostdeutschland. Und: Die glaubens- und kirchenfeindliche Politik der SED in der DDR hat dazu geführt, dass die großen Kirchen ihren Einfluss als Sozialisationsinstitutionen verloren. Am Ende der DDR gehörten nur 40 Prozent der Bevölkerung einer Kirche oder Religionsgemeinschaft an. Diese Entwicklung wurde auch seit der Wiedervereinigung nicht wieder umgedreht.
Das Bild von Katharina vor der Altstadt von Jerusalem (Foto 2: Katharina 003) –        In ihren Erinnerungen an die Jugendreise nach Israel berichtet Katharina gleich zu Beginn von eigenen und allgemeinen Stereotypen über Israel, das „man (…) eigentlich auch nur aus irgendwelchen Kriegsnachrichten und -bildern kannte“.–        Diese Stereotypen ließen sie zunächst zögern, die Reise mitzumachen.

–        Im weiteren Verlauf ihrer Erzählung wird deutlich, dass Katharina sich ein eigenes Bild machen und dadurch ihre Vorbehalte überwinden konnte. Denn, „es gab da Alltag“ und „nicht jede Rauchwolke in Israel ist irgendein Bombenanschlag. Es kann auch einfach nur ein Buschfeuer gewesen sein. Oder jemand verbrennt ein bisschen Laub.“

Die Bilder von Christiane im Wohngebiet (Foto 1: Christiane 005, Foto 2: Christiane 008) –        Ihren Erinnerungen an die Kindheit in der DDR im einem Berliner Plattenbaugebiet fügt Christiane zwei Bewertungen hinzu: Erstens, dass „diese Wohnung und dieses Gebiet Teil von dem behüteten Aufwachsen“ war und zweitens, dass ihre Familie bewusst „nie im Überfluss gelebt“ und ihre Eltern ein Leben lang in der Neubauwohnung gewohnt haben. Beide Bewertungen reflektieren zwar keine stereotyp- oder vorurteilsvollen Erfahrungen von Christiane. Doch gehör(t)en die „behütete Kindheit in der DDR“ und die Plattenbausiedlung zu den gängigen Themen, die (positive wie negative) Stereotype oder Vorurteile über den Lebensalltag in der DDR auslösen.
Das Bild von Christianes Vater mit Dackel auf dem Sofa (Foto 3: Christiane 020) –        Die Verweigerungshaltung ihres Vaters, nach dem Ende der DDR im neuen System „mit Wessis“ zusammenzuarbeiten, führt Christiane auf dessen politische Überzeugung als Kommunist zurück. Seiner Weltanschauung nach verkörperten „die Wessis“ das gegnerische Gesellschaftssystem, den Kapitalismus. Wahrscheinlich wäre für ihn deshalb „aus ideologischen Gründen“ eine Zusammenarbeit einem Verrat der lebenslang vertretenen politischen Prinzipien gleichgekommen. –        Christiane erinnert sich aber auch daran, dass ihr Vater seine Vorurteile über den Kapitalismus zumindest an den Stellen auflösen konnte, an denen das neue Gesellschaftssystem für seine Tochter gute schulische und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten bot: „Das hat ihn auch beruhigt. Das hat bestimmt nicht ausgereicht, um ihn zu versöhnen, aber das fand er gut. (…)“.

–        Aber: „das Grundsätzliche, worüber er nie hinweggekommen ist“, blieb für ihn“ die Ungleichheit in unserer Gesellschaft“. Diese Einschätzung impliziert, dass es in dem von Christianes Vater bevorzugten Gesellschaftssystem der DDR diese Ungleichheit nicht gegeben habe. Damit aber bedient er ein weitverbreitetes Stereotyp, das bereits in der DDR selbst gepflegt wurde, und das ausblendete, die dass es auch in der DDR Formen der Ungleichheit gab.

–        Zudem vernachlässigt das Narrativ von der Gleichheit in der DDR den permanenten Uniformitätsdruck und die politische Unterdrückung, die mit dem Verweis auf das angestrebte Gleichheitsideal gerechtfertigt werden konnten.

Die Bilder von Judith zu New York und mit Freund:innen (Foto 1: Judith 005, Foto 2: Judith 007) –        Die Schilderungen von Judith über ihren Freundeskreis transportieren stereotype Zuschreibungen auf den westdeutschen Familien- und Lebenshintergrund der „typische(n) Schwaben“, denen sie eine „ganz elitäre bürgerliche” Prägung attestiert.–        Diese stereotypen Zuschreibungen wiederholt Judith in Verallgemeinerungen über die „ordentlichen bürgerlichen Westdeutsche(n)“ und deren „Auslandsaufenthalte auf Kosten der Eltern“.

–        In ihrer Selbstzuschreibung sieht sich Judith mit ihren „wilden Berlin-Partys“ als Gegensatz dazu. Aus den selbstbewusst klingenden Selbst- und Fremdzuschreibungen von Judith wird aber auch deutlich, dass „die gegenseitigen Stereotype zwischen ihr, dem „kleinen Ossi“, und den „anderen Wessitanten“ die Neugierde geweckt haben, sich „im Austausch“ besser kennenlernen zu wollen.

Die Bilder von Judith von der 1. Mai-Demonstration (Foto 3: Judith 003, Foto 4: Judith 002) –        Judiths Erinnerungen an die 1.-Mai-Demonstration, an der sie 1996 in Berlin teilgenommen hat, erzählen von einem ironischen Umgang mit stereotypen Ritualen aus DDR-Zeiten: Indem bspw. „frühere DDR-Losungen“ aufgegriffen wurden oder einige Teilnehmer:innen wie SED-Funktionäre gekleidet waren, habe man diesen 1. Mai nicht als „Glorifizierung der DDR“ begehen, „sondern eher ein linkes, ironisch-politisches Kulturevent“ veranstalten wollen. –        Der 1. Mai wurde in der DDR als „internationaler Kampftag der Arbeiterklasse“ begangen, eine Teilnahme an den Maidemonstrationen war für jede:n obligatorisch. Die Demonstrant:innen trugen jedoch nicht ihre Forderungen nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Straße, sondern waren ausgefordert, ihre Loyalität gegenüber der SED-Führung zu bekunden. Häufig verwendete Symbole, wie die zur Faust geballte rechte Hand oder rote Nelken, sind auch auf dem Foto von Judith zu erkennen.
Das Bild von Nadja vom voll besetzten Tisch vor einem Haus (Foto 1: Nadja 028) –        In Nadjas Beschreibung der Mietergemeinschaft im Plattenbau zu DDR-Zeiten, schildert sie selbst keine Stereotypenerfahrung oder ein eigenes Vorurteil. Allerdings wurden DDR-Plattenbauten, wie der auf diesem Foto gezeigte, rückblickend zu einem Stereotyp der DDR-Alltagskultur, der mit überwiegend positiven Attributen besetzt wurde. –        Zugleich wurde der DDR-Plattenbau zu einem Stereotyp der ostdeutschen (Nachwende-)Alltagskultur, der dann wegen seiner sich verändernden Sozialstruktur negativ besetzt war.

–        Der schlechte Ruf der Plattenbaugebiete in Ostdeutschland ist allerdings eigentlich auf ihre Entwicklung in den 1990er-Jahren zurückführen – als die „Durchmischung“ mit „Akademiker(n), (…), Arbeiter(n), Schichtarbeiter(n), Frauen wie Männer(n)“ aus DDR-Zeiten langsam verschwand. So erlebte auch Nadja „gerade in diesem Neubaugebiet, wo die Arbeitslosigkeit grassierte“, die Veränderung der Sozialstruktur unter den Bewohner:innen.

Das Bild von Nadja vor dem Ministerium (Foto 2: Nadja 001) –        Mit dem Foto von dem Bundesfamilienministerium in Bonn verknüpft sich für Nadja die Erinnerung an die erste Reise in „eine andere Welt“ – vier Jahre nach der Wiedervereinigung.–        Ihre Schilderungen stehen dabei beispielhaft für die Erfahrungen vieler (junger) Ostdeutscher, die sie bei ihren ersten Reisen nach Westdeutschland oder Westberlin machten. Auch Jahre nach der Wiedervereinigung waren die DDR-Prägungen weiterhin im Lebensumfeld vieler Ostdeutscher spürbar – im Straßenbild, am Wohnort, bei Alltagsgegenstände und -routinen etc. Die von Nadja geschilderte Entdeckung, „dann auch gleich da zum Italiener essen gegangen“ zu sein, verweist auf Orte oder Verhaltensweisen, die offenbar als westdeutsch assoziiert wurden.

–        Weiterhin erinnert sich Nadja: „(…) dieses Ost-West-Thema spielte schon eine Rolle“ und fügt hinzu, „(…) als wir da zum Ministerium gegangen sind, habe ich mich eher als Gast gefühlt, nicht als Teil des Ganzen, weil das war ja letztendlich immer noch ein fremdes Land, in das wir eingetaucht sind, wiedervereint wurden, übernommen wurden, wie auch immer man es nennen möchte.“ Damit verweist sie auf den Einigungsprozess, der als Beitritt der DDR zum bundesdeutschen Geltungsbereich vonstatten ging und nicht in einem gemeinsamen Findungsprozess zu einer neuen gemeinsamen Verfassung und Staatlichkeit führte.

–        Auch hier vermittelt Nadja selbst keine eigenen (Erfahrungen mit) Stereotypen oder Vorurteile. Das angesprochene Gefühl aber, „nicht Teil des Ganzen“ zu sein, ist Teil einer kollektiven ostdeutschen Erfahrung.

  1. Der:Die Referent:in bittet die Teilnehmerinnen um einen abschließenden Vergleich von ihren Vorurteilsvermutungen an die Bilder mit den Vorurteilserfahrungen der Zeitzeug:innen.
Frage Mögliche Antworten
Worin könnten die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede zwischen euren Bildwahrnehmungen und den Erfahrungen der Zeitzeug:innen begründet liegen? –        Die Teilnehmer:innen haben nur den visuellen Eindruck. Sie können nur sehen, was sie selbst kennen. Die Antworten der Teilnehmer:innen spiegeln daher ihren Referenzrahmen wider. –        Deshalb sehen und assoziieren verschiedene Teilnehmer:innen auch nicht genau dasselbe, wenn sie sich ein Motiv anschauen.

–        Die Zeitzeug:innen hingegen können das, was auf dem Bild sichtbar ist, um ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen über den eigentlichen Bildausschnitt hinaus erweitern. Sie könnten sich beispielsweise daran erinnern, was links und rechts neben dem Bildausschnitt zu sehen wäre, sie wissen möglicherweise um weitere Bilder, die in der damaligen Situation entstanden sind oder sie können noch die Stimmung rekapitulieren, in der sich abgebildete Menschen befanden.

Arbeitsphase 3
  1. Der:Die Referent:in leitet über: Fremdzuschreibungen, Marginalisierung und Othering oder Vorurteile sind ein wesentlicher Bestandteil der Umbruchserfahrungen von Ostdeutschen.
  2. Zur Illustration dieser Tatsache zeigt der:die Referent:in den Teilnehmer:innen entweder
  • die kurze Filmdokumentation Ossi? Na und! – 30 Jahre und keine Einheit: https://youtu.be/bAeym4f4oLc, die individuelle, junge Perspektiven und Erfahrungen sowie vergleichende Fakten zu Ostdeutschland vermittelt,

oder

  1. Der:Die Referent:in bittet die Teilnehmer:innen, sich die Erfahrungen und Perspektiven der Protagonist:innen in der Doku oder im Text auf Moderationskarten zu notieren.
  2. Anschließend tauschen sie sich in ihren Arbeitsgruppen über jeweils ein ihnen bekanntes und ein ihnen unbekanntes Stereotyp oder Vorurteil über Ostdeutsche aus.

Tipp: Im diesem kurzen Austausch kann es bei den Teilnehmer:innen zu spontanen Reaktionen über das Gesagte in der Dokumentation bzw. im Text kommen, weil die Protagon:ist:innen ebenso nicht frei von Vorbehalten oder Stereotypen sind, bspw. über Westdeutschland und Westdeutsche. Diese Reaktionen können entweder am Ende dieser Arbeitsphase II noch einmal aufgegriffen werden oder in Arbeitsphase III, wenn die Teilnehmer:innen zu Vorurteilen recherchieren, die sie selbst erfahren haben.

  1. Der:Die Referent:in legt die Moderationskarten mit den gesammelten Aussagen aus der Kurzdoku oder dem Text nacheinander vor den Teilnehmer:innen aus.
  2. Der:Die Referent:in bittet jeweils eine:n Teilnehmer:in, die Aussage laut vorzulesen und spontan darauf zu reagieren.
  1. Wenn alle fünf Aussagen zu sehen sind, kann der:die Referentin das Gespräch mit folgenden Fragen weiter lenken:
  • Was sagt ihr dazu? Was denkt ihr, wenn ihr so etwas lest oder hört?
  • Was wird mit solchen Aussagen eigentlich ausgedrückt, was haben sie gemein?
  • Welchen Unterschied macht es, ob sich die Aussage von einer einzelnen Person getroffen würde oder von einer Gruppe?
  • Welchen Unterschied macht es, ob die Aussage von einem großen Teil der Gesellschaft getroffen würde oder von einer kleinen Gruppe aus der Gesellschaft?
  • Welche Auswirkungen hätte (hat) es auf euer Leben, wenn (dass) große Teile der Gesellschaft tatsächlich so über euch denken (würden)?
  1. Anschließend fasst der:die Referent:in die Wirkweise von Vorurteilen zusammen. Er:Sie ergänzt (wenn es die Teilnehmer:innen nicht bereits von sich aus angesprochen haben) weitere Beispiele für gesellschaftliche Gruppen, die von weitverbreiteten Vorurteilen betroffen sind, wie z. B. Frauen, PoC, Geflüchtete, Obdachlose, Muslimas und Muslime, LGBTQ+-Personen, Jüd:innen, Menschen mit Behinderung etc. Die Erfahrungen von von Vorurteilen betroffenen Personengruppen machen deutlich, dass zwischen Vorurteilen auf individueller Ebene einerseits und weitverbreiteten Vorurteilsstrukturen gegen soziale Gruppen andererseits differenziert werden muss.
Arbeitsphase 4
 

  1. Die:Die Referent:in lädt die Teilnehmer:innen dazu ein, über eine der stereotypen Aussagen, Klischees oder Vorurteile über ihre Heimatregion, die sie zuvor (in Arbeitsphase I) benannt haben, zu recherchieren.
  2. Sie überprüfen die Aussagen, die hinter dieser Zuschreibung stehen, indem sie Informationen und Argumente zusammentragen. Hierfür nutzen sie vor allem ihnen bekannte Internetquellen. Zudem können sie auf in gut aufbereiteten digitalen Rechercheangeboten bspw. der Bundeszentrale bzw. der Landeszentralen für politische Bildung oder der öffentlich-rechtlichen Medien, wie dem Deutschlandfunk oder Deutschlandfunk Kultur suchen.
  3. Anschließend finden sich die Teilnehmer:innen zu zweit oder zu dritt zusammen:
  • Im ersten Schritt tauschen sie sich in ihrer Kleingruppe darüber aus, mit welchen Informationen und guten Argumenten das jeweilige Vorurteil ausgeräumt, ihm widersprochen und es überwunden werden kann.
  • Im zweiten Schritt überlegt sich jede:r Teilnehmer:in eine positive, augenzwinkernde, ironische Selbstzuschreibung, die sich auf seine:ihre Herkunft bezieht und mit der er:sie sich identifizieren kann. Die Selbstbeschreibung sollte sich idealerweise auf ein Wort (Substantiv oder Adjektiv) oder eine kurze Aussage bringen lassen und wie ein Statement wirken.
  • Die Teilnehmer:innen notieren ihre Selbstzuschreibung und ergänzen dazu die Attribute, die mit ihrer positiven Selbstzuschreibung verbunden sein sollen.
  1. Die Teilnehmer:innen können ihre Selbstzuschreibung nun kreativ gestalterisch umsetzen, bspw. als Label oder in einem bearbeiteten Foto oder Comic von sich, das die Selbstzuschreibung und evtl. die dazugehörigen Attribute wiedergibt. Andere Varianten können gestaltete T-Shirts oder Stoffbeutel sein. Entsprechend müssten mehr Zeit, Technik oder Materialien zur Verfügung gestellt werden.