Einführung: Die Dritte Generation Ostdeutschland

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Einführung
Die Dritte Generation Ostdeutschland

 

Begriff und Charakteristika[1]

Dem Begriff „Dritte Generation Ostdeutschland“ liegt eine stark vereinfachte Generationsdefinition zugrunde.[2] Weitere Begriffe sind „Wendekinder“ oder „Generation der Unberatenen“. Gemeint sind die etwa 2,4 Millionen Menschen, die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geboren und dort als Kinder sozialisiert wurden. Den Zusammenbruch und das Ende der DDR 1989/90 erlebten sie zum Zeitpunkt, als sie ins Jugendalter eintraten. Die Bedingungen für einen Start in das Leben im wiedervereinten Deutschland war für sie, im Vergleich zu anderen DDR-sozialisierten Generationen, zwar günstig. Gleichwohl wurden das Ende der DDR und der folgende Vereinigungsprozess von vielen dieser Generation als ein kritisches, fremdbestimmtes Lebensereignis wahrgenommen. In diesem Zusammenhang wird sie auch als die „Generation der Unberatenen“ charakterisiert, weil sie bei ihrer Gestaltfindung in einer an gesellschaftlichen Umbrüchen reichen Zeit von allen Erziehungsträgern, insbesondere der Elterngeneration, weitgehend allein gelassen wurde.

Verhältnis zur Elterngeneration

In ihrer Sozialisation ist die Dritte Generation Ostdeutschland gekoppelt an die Prägungen ihrer Elterngeneration, die noch tief in der DDR erfolgten. In der Umbruchszeit machten sie die Erfahrung, dass sie unter Umständen viel schneller im neuen System zurechtkamen als die Älteren: Wenn sie ihren Eltern erklärten, wie die neue Welt funktioniert, kehrte sich für sie das Eltern-Kind-Verhältnis um. Der Kontrast zwischen dem eigenen Erleben der späten DDR und der Umbruchjahre, dem Erleben der Elterngeneration und der kollektiven Erinnerung weckt in Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland heute ein hohes Bedürfnis, über die Vergangenheit zu sprechen.

Verhältnis zur Sozialisation in der DDR und Transformationszeit

Die Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland, die bis 1990 noch Kinder waren, erlebten die Kindheit und Schulzeit in der Regel als geordnet, durchgeplant und erfüllt. Für sie ist diese Lebensphase vor allem als eine Zeit in Sicherheit, Geborgenheit und Gemeinschaft positiv besetzt. Die älteren unter ihnen, die bis 1990 bereits Jugendliche waren, haben stärkerer Erfahrungen im Umbruch: beispielsweise im bewussten Erleben des Demonstrationsherbstes, Gewinn- und Verlusterfahrungen bei sich selbst bzw. im familiären Umfeld oder dass die Milieuzugehörigkeit auf einmal darüber entschied, wie sozioökonomische Krisen bewältigt werden können. Für sie verschlechterten sich nach dem Zusammenbruch und der Abwicklung der DDR-Volkswirtschaft die Ausbildungs- und Studienchancen in Ostdeutschland für lange Zeit. Gute Chancen hatte, wer seinen Ausbildungs- oder Studienweg in Westdeutschland ging. Die kollektive politische Verunsicherung in Ostdeutschland, die auch sie erlebten, resultierte aus dem politischen, sozialen und kulturellen Transformationsprozess in Ostdeutschland, der letztlich eine Neuorientierung in einer vergrößerten, aber im Kern altbundesdeutschen Gesellschaft einforderte.

Trotz eigener DDR-Erfahrungen hatten die Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland keinen Einfluss auf die Entwicklung der DDR – das heißt, sie ist einzige DDR-Generation „ohne Schuld“. Dennoch verfolgen sie aufgrund ihrer DDR-Sozialisation die Vergangenheits- und Aufarbeitungsdiskurse besonders aufmerksam.

Eine spezifische Erfahrung der Dritte Generation Ostdeutschland in den 1990er- und Nullerjahren ist die latente und konkrete Gewalterfahrung aus der eigenen Alterskohorte heraus, geprägt von einer Auseinandersetzung zwischen politisch Rechts und Links.

Die Dritte Generation Ostdeutschland – eine unter vielen im Diskurs

Bisher wird das Spektrum der Perspektiven der Dritten Generation Ostdeutschland in der Öffentlichkeit nicht facettenreich genug abgebildet.[3] So tauchen beispielsweise Jugenderinnerungen an die Umbruchszeit in Ostdeutschland aus (post)migrantischen Perspektiven zu wenig auf.[4] Sie sind ebenfalls Teil der DDR-/ostdeutschen Geschichte. Ihre Erfahrungen waren jedoch noch viel länger aus dem öffentlichen Diskurs zur deutschen Teilungs- und Wiedervereinigungsgeschichte ausgeschlossen. Noch immer „wird über die Rolle von Migrant:innen in Ostdeutschland kaum gesprochen. Selbst in der Forschung dominiert die westdeutsche Einwanderungsgeschichte den Diskurs.“[5] Die Perspektiven der Dritten Generation Ostdeutschland sind daher vielfältiger, als bislang öffentlich wahrnehmbar. Und sie treffen auf viele weitere ostdeutsche Perspektiven, die darum ringen, im öffentlichen Narrativ gehört zu werden.

[1] Zusammengestellt nach Lindner, Die Unberatenen, S. 93 – 112; Ahbe/Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodologische Überlegungen am Beispiel der DDR, S. 475-572 und Tanja Bürgel: Gibt es eine vom ostdeutschen Umbruch geformte Generation? Zu Prägungen und Perspektiven ostdeutscher Mauerfall-Kinder, S. 455-474, alle in: Schüle/Ahbe/Gries (Hrsg.), 2006: Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive.

[2] Von der Existenz einer dritten Generation wird die Existenz einer zweiten und ersten Generation hergeleitet. Als zweite Generation wird die Elterngeneration verstanden, die in der DDR geboren, sozialisiert, ausgebildet und berufstätig wurde. Als erste Generation wird die der Großeltern betrachtet, die die DDR aufgebaut hat.

[3] Vgl. Bianca Ely/Jana Scheuring: Dritte Generation Ost – Leerstellen und Potentiale, in: Irmhild Schrader u. a. (Hrsg.), 2015: Vielheit und Einheit im neuen Deutschland. Leerstellen in Migrationsforschung und Erinnerungspolitik, Brandes & Aspel Verlag, Frankfurt Main, S. 87.

[4] Beispielsweise von Vertragsarbeiter:innen in der DDR aus Mosambik, Vietnam oder Polen, von Spätaussiedler:innen in Ostdeutschland aus der ehemaligen Sowjetunion, Kriegsgeflüchteten oder Kindern von binationalen Paaren. Vgl. Projektvorstellung „Ostdeutsche Migrationsgeschichte selbst erzählen“, unter: https://www.damost.de/projekte/migost/ueber-das-projekt/ (August 2022).

[5] Zit. Projektvorstellung „Ostdeutsche Migrationsgeschichte selbst erzählen“, unter: https://www.damost.de/projekte/migost/ueber-das-projekt/ (August 2022).

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