Einführung: Fotografien als historische Quellen

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Einführung
Wahrnehmen, Speichern, Erinnern

 

Fotografien bilden vermeintlich die Wirklichkeit bzw. das ab, was im Moment der Aufnahme vor einer Kamera gewesen ist. Ihnen werden daher eine besondere Beweiskraft und Wahrheit zugeschrieben. So werden sie bei polizeilichen Ermittlungen, in der Medizin aber auch in der Geschichtswissenschaft nicht nur als dokumentarisches Werkzeug, sondern auch als Quellen genutzt, die Erkenntnisgewinne über Vergangenheit und Gegenwart versprechen. Historiker:innen ziehen Fotografien als visuelle Quellen zu Rate, um Aussagen über historische Ereignisse, Personen, soziale Handlungen und das Lebensgefühl bestimmter Epochen treffen zu können.[1]

Doch Fotografien sind immer von den spezifischen technischen Bedingungen der fotografischen Apparatur abhängig und das Ergebnis verschiedener Entscheidungen, die von den Menschen getroffen wurden, die sie anfertigen und zeigen. Sie reflektieren deren gesellschaftliche Positionierungen, politische Ansichten und Absichten sowie deren ökonomische Möglichkeiten und mediale Zugänge. Sie sind daher niemals objektiv, sondern werfen immer die Frage auf: Was wird wann und wie (nicht) fotografiert sowie gezeigt? Daher ermöglichen Fotografien nur eine Perspektive auf bzw. vage Annäherung an das Dargestellte, sei es ein historisches Ereignis oder eine Person.

Wie bei anderen Quellen (zum Beispiel Texten) auch bedarf es für das Verständnis und bei der Interpretation von Fotografien einer ebenso kritischen Auseinandersetzung. Mit Fotografien werden Erzählungen geschaffen. Im Alltag vergewissern sich Menschen mit Fotos ihrer selbst, konstruieren Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten, Rollen- und Familienbilder, folgen kollektiven Vorstellungen und gesellschaftlichen Konventionen. Um einschätzen zu können, welche historische Bedeutung und welchen Stellenwert eine Fotografie hat, ist es daher wichtig, Kontextwissen zu der Zeit, Kultur und dem Ort, in welchen das Foto entstand, in die Bildanalyse einzubringen.

Darüber hinaus vermitteln einzelne Fotos immer nur Ausschnitte von Momenten, sie zeigen keine Abläufe.[2] Bilder können uns immer nur einen Ausschnitt der Vergangenheit aus einer bestimmten Perspektive zeigen. Auch jenseits gezielter, nachträglicher Bildmanipulation, zum Beispiel durch analoge und digitale Montage- und Retuschetechniken, kann die Darstellung einer Situation oder Person von den Fotograf:innen bereits im Moment der Aufnahme stark beeinflusst werden – etwa durch die Wahl eines bestimmten Motivs und Bildausschnitts, durch den gezielten Einsatz von Licht und Schatten oder durch die Steuerung der farblichen Bildwiedergabe. Die von Fotograf:innen erzielte Bildstimmung lenkt die Interpretation eines Bildes in eine bestimmte Richtung.

Fotografien können insofern auch instrumentalisiert werden, um bestimmte Überzeugungen zu vermitteln. Um ein besseres Verständnis für den Aussagegehalt eines Fotos zu erlangen, ist es wichtig, Vergleichbarkeiten durch andere Quellen zu schaffen, zum Beispiel durch ähnliche Fotos anderer Fotograf:innen oder durch Interviews mit Zeitzeug:innen.

Und schließlich ist auch die Deutung von Fotografien ein von subjektiven Faktoren beeinflusster Akt, der von individuellen, sozialen und kulturellen Prägungen sowie vom Vorwissen und der Erwartungshaltung der interpretierenden Person abhängt. Bildern werden Bedeutungen zugeschrieben, sie haben sie nicht per se inne.

Private Alltagsfotografien der Dritten Generation Ostdeutschland

Das fotografische Bildmaterial des Bildungsangebots „Ich sehe was, das du nicht siehst – Bilder vom Erwachsenwerden in zwei politischen Systemen“ stammt aus dem privaten Besitz von zehn Zeitzeug:innen des Zeitenwende-Lernportals (www.zeitenwende-lernportal.de). Diese, aus ganz unterschiedlichen persönlichen Motiven entstandenen Amateuraufnahmen unterscheiden sich in der Wahl des Sujets sowie in der Art der Bilddarstellung und Bildkomposition von professionellen Fotografien, denn:

  • sie sind nicht in der Absicht der Veröffentlichung, zum Beispiel in den Medien oder einer Ausstellung, entstanden,
  • als Motive stehen private Momente im Mittelpunkt, jedoch nicht gesellschaftlich oder politisch bedeutsame Ereignisse,
  • sie vermitteln Spontanität, Unmittelbarkeit und Authentizität und knüpfen damit an unseren Sehgewohnheiten in der Gegenwart an, in der wir alltäglich mit fotografisch entstandenen Bildern zeitnah über digitale Kanäle und Plattformen kommunizieren,
  • sie geben Rückschlüsse auf sozioökonomische Verhältnisse und die gesellschaftlichen Verhaltensweisen ihrer „Motive“,
  • sie können in der persönlichen Rückschau Impulse für die Selbstvergewisserung und Identitätsfindung des:der Besitzer:in oder des „Motivs“ auslösen.

Der durch das Medium Fotografie transportierte Blick auf das Leben von Kindern und Jugendlichen in der Zeit des politischen Umbruchs 1989/90 ist ein besonderer Motivator für die Auseinandersetzung mit dieser historischen Zeit und ihren Folgen.

Um private Alltagsfotografien in der historisch-politischen Bildung zu nutzen, empfiehlt es sich, begleitende Quellen zur Entschlüsselung des historischen Kontextes heranzuziehen. Für das Bildungsangebot wurden deshalb ausführliche Interviews mit den zehn Zeitzeug:innen geführt. Sie geben Auskunft zum Entstehungszusammenhang der Fotos, zu den wichtigsten biografischen Stationen hinter den Momentaufnahmen sowie zu den unmittelbar mit den Fotos verknüpften und darüber hinaus assoziierten Alltagserinnerungen.

Fotografien analysieren und interpretieren

Für die Analyse und Interpretation von Fotografien als historische Quellen eignet sich (wie bei Textinterpretationen auch) die AQuA-Methode[3]:

Autor:in: Wer ist die Autor:in (Fotograf:in)? Unter welchen Umständen hat er:sie gelebt?
Quelle: Welche Art von Quelle (Foto) ist es? Was ist dargestellt? Wann ist die Quelle entstanden?
Adressat: Wer ist der:die Adressatin? Mit welcher Absicht wurde das Foto aufgenommen?

Ausgangspunkt der Fotoanalyse ist zunächst die Beschreibung der Quelle, die folgende Fragen erörtert:

  1. In welcher Materialität liegt das Foto vor? Als Negativ, Dia, Papierabzug, Polaroid oder als digitale Datei?
  2. Wie ist der Zustand des Fotomaterials? Ist es vollständig, sind Gebrauchsspuren zu erkennen (zum Beispiel Beschriftungen, Risse, Knicke, Flecken, digitale Fehler), weist es gestalterische Besonderheiten auf (zum Beispiel gezackte Ränder, weiße Rahmen) und worauf deuten diese hin?
  3. Welches Format und welche Dimensionen weist das Foto auf? Handelt es sich um ein Hoch- oder Querformat, ist es quadratisch, oval oder rund? Wie groß ist das Foto und welche Aussagen lassen sich anhand der Größe über seine Nutzung und seinen Stellenwert treffen?
  4. Welches Motiv wird gezeigt und wie ist das Foto komponiert? Was befindet sich im Vorder-, Mittel- und Hintergrund?
  5. Lässt sich das Foto in ein Genre einordnen – zum Beispiel ein Einzel- oder Gruppenporträt, eine Landschafts- oder Architekturaufnahme oder ein Stillleben?
  6. Welche Perspektive nimmt die fotografierende Person zum Fotomotiv ein? In welchem Abstand befand sie sich? Wurde das Foto von unten (Froschperspektive), oben (Vogelperspektive) oder auf Augenhöhe (Normalperspektive) aufgenommen, welchen Effekt hat das und gibt das einen Hinweis auf die Beziehung zwischen Fotograf:in und Motiv?
  7. Wie stellt sich die Blickführung im Foto dar? Wohin schauen die Menschen auf dem Foto? Schaut jemand direkt in die Kamera oder daran vorbei und welchen Effekt hat das?
  8. Welche stilistischen Mittel werden im Foto verwendet? Ist es ein Schwarzweiß- oder ein Farbfoto, ist es primär hell oder dunkel und welche Stimmung wird dadurch erzeugt? Welche Rückschlüsse lässt das Foto hinsichtlich der Aufnahmetechnik zu und gibt es weitere auffallende Merkmale, wie zum Beispiel Überbelichtungen, Unschärfen, Schatten, schiefe Aufnahmewinkel, Körnung oder geringe Bildauflösung und worauf deuten diese Merkmale hin?

Hinweise über die Art der Herstellung, des Entstehungszeitraumes und -ortes, die Funktion und den Stellenwert einer Fotografie liefern darüber hinaus

  1. das Motiv selbst (zum Beispiel durch Text-im-Bild, zeitgenössische Mode, wiedererkennbare Gebäude, das Straßenbild, die Art der Autos, das Interieur) sowie
  2. ihr Aufbewahrungs- und Präsentationskontext (zum Beispiel Album, Bilderrahmen, Schuhkarton, Portemonnaie, Speichermedium, Messengerdienste, Cloud, Blog, Social-Media-Feed).

Als Quellen für die Geschichtswissenschaft finden sich private Alltagsfotografien heutzutage nicht mehr nur in Privathaushalten (zum Beispiel in Form von Familienalben), sondern auch online sowie in öffentlichen Archiven, Sammlungen und Museen. Anhand ihres Aufbewahrungsortes lassen sich bereits Rückschlüsse über den Stellenwert und die historische Bedeutung der Bilder treffen, die ihnen einmal zugesprochen wurden. Um weitere Aussagen zu Autor:in und Adressat:in der Quelle treffen zu können, folgen der Bildbeschreibung zusätzliche Recherchen und Quellenvergleiche.

[1] Vgl. Irene Ziehe/Ulrich Hägele (Hrsg.), 2007: Der engagierte Blick: Fotoamateure und Autorenfotografen dokumentieren den Alltag, LIT Münster; Jens Jäger, 2009: Fotografie und Geschichte (Historische Einführungen, 7), Campus, Frankfurt am Main.

[2] Vgl. Sauer, Michael, 2005: Bilder als historische Quellen, Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/bilder-in-geschichte-und-politik/73099/bilder-als-historische-quellen.

[3] Vgl. Ebneter, Tobias: Muster Quelleninterpretation: https://ksreussbuehl.lu.ch/-/media/KSReussbuehl/Dokumente/Ausbildung/Fachschaften/Geschichte/muster_quelleninterpretation.pdf.

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