Einführung: Wahrnehmen, Speichern, Erinnern

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Einführung
Wahrnehmen, Speichern, Erinnern

 

Die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, ist für uns Menschen wichtig. Erinnerungen zu artikulieren bedeutet, sich seiner selbst bewusst zu sein, zu wissen, wer man in der Vergangenheit war und in der Gegenwart ist. Erinnerungen sind zudem die Grundlage, auf der wir eine Idee für die Zukunft entwickeln.

Erinnerungen sind nicht nur Teil der alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern längst auch Gegenstand der Bildungsarbeit, zumeist zu historischen Themen. Denn: Geschichte baut immer auch auf Erinnerungen auf.

Die Voraussetzung für Erinnerung: Wahrnehmen und Speichern[1]

Unsere Sinnesorgane nehmen nur ausgewählte Signale aus der Umwelt wahr; sie können nicht alle Signale erfassen. Diese beschränkte Aufnahmefähigkeit nennt man „selektive Aufmerksamkeit“. Das heißt., es gibt vieles, was wir eigentlich erlebt haben, an das wir uns aber nicht erinnern können. Wir werden in der Regel nur auf die Signale aufmerksam, die wir erwarten, wahrzunehmen. „Wir sehen, was zu sehen nützlich ist.“[2] Unsere Wahrnehmungen sind also weder besonders objektiv noch lückenlos oder detailgetreu.

Trotz lückenhafter Wahrnehmung, versucht unser Gehirn stets, ein „Ganzes“ abzuspeichern. Dafür fülltes die Lücken mit Zusammenhängen und Begründungen, die aus Vorerfahrungen resultieren und daher „logisch“ erscheinen. Das heißt, unsere spätere Erinnerung setzt sich zusammen aus lückenhaft wahrgenommenen Signalen und aus der Interpretation der Bruchstücke zu einem Ganzen. Dabei können sich, unbemerkt und ohne Absicht, Fehler oder Missinterpretationen einschleichen, insbesondere, wenn wir uns an Handlungen anderer Menschen erinnern.

Erinnerungen rufen wir aus unserem Langzeitspeicher ab. Wie das Wahrnehmen ist auch das Erinnern ein Prozess, bei dem nicht immer alle zusammengehörenden Gedächtnisspuren zusammenliegen: So erinnern wir uns beispielsweise manchmal an einen Ort, aber nicht mehr an das Geschehen dort. Manchmal erinnern wir uns an ein Gespräch, aber nicht mehr an alle daran beteiligten Personen. Auch Sinneswahrnehmungen, wie Gefühle oder Gerüche, werden gespeichert, während andere Bestandteile der Erfahrung nicht abgerufen werden können. Das heißt, wie bei der Wahrnehmung und Speicherung versuchen wir auch beim Erinnern, trotz Lücken ein Gesamtbild zu erzeugen. Aber wir können beim Zurückblicken nicht wirklich noch einmal hinschauen.

Erinnern und Erzählen

Beim Erinnern nehmen wir immer wieder Veränderungen vor, denn das Gedächtnis ist ein „Geschichtenerzähler“: Es hebt manches hervor, es lässt anderes weg. Es füllt nachträglich unsere Lücken auf. Wir bauen beim Erinnern etwas um, wenn es uns so „logischer“ vorkommt, weil wir etwas anders und neu bewerten oder weil wir unsere Meinung über das, was wir erinnern, inzwischen geändert haben.

Neue Erfahrungen, die wir in der Zwischenzeit gesammelt haben, können sich über die alten Erfahrungen „drüberlegen“ und so Altes „überschreiben“. Und: Die Deutungen und Versionen anderer Menschen über das, was wir erinnern, können zu Teilen unserer persönlichen Erinnerungen werden, weil wir sie mit einweben. Die Forschung hat sogar belegt, dass man Menschen Erinnerungen einreden kann, obwohl sie das Erinnerte nie erlebt haben. Negative Erfahrungen werden mit der Dauer der Zeit „abgeschwächt“ und verblassen. Das heißt, in die Erinnerungen, die wir anderen erzählen oder aufschreiben, können sich zusätzlich zu den Schwächen in der Wahrnehmung und Speicherung neue Fehler einschleichen. Diese sind uns meist nicht bewusst, denn sie unterlaufen uns unabsichtlich. Andererseits können besonders eindrückliche, für uns wichtige Erfahrungen auch besonders fest und klar gespeichert und mit vielen zu erinnernden Einzelheiten verbunden sein.

Das autobiografisch erinnernde Erzählen, wie es uns beispielsweise von Zeitzeug:innen präsentiert wird, kann durch die Situation, in der gefragt wird, beeinflusst werden, beispielsweise durch verunsichernde Fragen, durch Fragen, die eine bestimmte Wertung enthalten oder durch die Erwartungshaltung des:der Fragenden etc.

Unsere Wahrnehmungen und unsere Erinnerungen beruhen also auf lückenhaften und nur ausgewählten Daten, die wir aufgrund von Wahrscheinlichkeiten rekonstruieren, also wieder zusammenbauen. Beim Erinnern und Erzählen wirkt sich immer die jeweilige Gegenwart aus. Sie bestimmt mit, welche Bedeutungen wir dem Erzählten beimessen.

Fazit: Das Verhältnis von Erinnerung und Geschichte

Wenn wir uns Geschichte über Erinnerungen erschließen, ist es unabdingbar, den Unterschied zwischen realer Vergangenheit und rekonstruierter Geschichte zu kennen. Man spricht vom Konstruktionscharakter von Geschichte, der auf der Auswahl eines Ausschnittes aus der Vergangenheit (beispielsweise durch unsere Fragestellung oder die Erzählung von Zeitzeug:innen sowie auf der Perspektivität menschlicher Erkenntnis (beispielsweise Erfahrungs- oder Ausbildungshintergrund des:der Historiker:in) beruht. Ausschnitte aus der Vergangenheit können dann aus Erinnerungen rekonstruiert werden. In Zusammenhängen der historisch-politischen Bildung müssen diese Erinnerungen aber stets auch hinterfragt, überprüft und mit anderen Quellen verglichen werden. Denn: Jede:r erzählt „seine:ihre“ Geschichte, die aus der persönlichen Sicht Sinn macht und „wahr“ ist. Es kann zu einem Zusammenhang nie nur „eine“ oder gar „wahre“ Geschichte geben, denn wir alle nehmen Geschehenes ganz unterschiedlich wahr und deuten es entsprechend anders. Um der Vergangenheit möglichst nahezukommen, braucht es stets mehrere Wahrnehmungen, Erinnerungen, Deutungen und Geschichten.

[1] Nach: Wahrnehmen und Speichern – Erinnern und Erzählen oder Wie Geschichte entsteht, unter: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/havemann/docs/material/3_MA.pdf

[2] Vgl. Singer, Wolf: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags am 26.09.2000 in Aachen. http://www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/Np/Pubs/Historikertag.pdf, S. 2.

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