Einführung: Umbruch in der DDR und Transformation in Ostdeutschland


Einführung

Umbruch in der DDR und Transformation in Ostdeutschland

 

Begriffsdefinition

Mit dem Umbruch in der DDR sind überwiegend der Zeitraum ab 1988 und die Zeit der Friedlichen Revolution 1989/90 sowie der Zusammenschluss der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 gemeint.[1]

Die Transformation in Ostdeutschland[2] hingegen umfasst den tiefgreifenden, umfassenden und beschleunigten Wandel des politischen Systems, der Wirtschaft und der Gesellschaft in Ostdeutschland in den 1990er-Jahren und darüber hinaus.[3] Die Transformation wird als ein Prozess beschrieben, der das gesamte Land vor große Herausforderungen stellte, vor allem aber tiefgreifende Auswirkungen auf den Alltag und das Leben der Menschen in und aus Ostdeutschland hatte. Die Dauer des Transformationsprozesses ist auf den unterschiedlichen Ebenen verschieden.

Der Begriff Transformation wird nicht nur für Deutschland verwendet, sondern auch für die verschiedenen osteuropäischen Revolutionen und Umbrüche in den Jahren 1989 bis 1991 sowie ihre Vor- und Nachgeschichten. Ebenso kann der Begriff für Ereignisse und Prozesse in anderen Zeiten oder für nicht(post)sozialistische Systeme genutzt werden.

Vorgeschichte des Umbruchs

Die Friedliche Revolution 1989 leitete in der DDR einen plötzlichen und grundlegenden Systemwechsel ein: Es wurden neue politische, wirtschaftliche, soziale, rechtliche und verwaltungstechnische Strukturen eingeführt, die schließlich zur Auflösung der DDR und zum Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten führten. Dieser Umbruch in der DDR geschah 1989 aber nicht einfach so, er hatte eine Vorgeschichte. Die DDR war bereits in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine stark zerrissene und fragmentierte Gesellschaft. Nach knapp 40 Jahren Existenz hatte das SED-Regime nicht die allumfassende Bindung aller Bevölkerungsgruppen an den sozialistischen Staat erlangen können, die es erhofft und erwartet hatte. Die Erfahrungen verschiedener Generationen und Milieus hatten im vierten Jahrzehnt der DDR zu ganz unterschiedlichen Positionen gegenüber der SED-Führung geführt. Zu den wichtigsten Entwicklungen für den politischen Umbruch Ende der 1980er-Jahre gehörten a) vielfältige Zerfallserscheinungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, b) oppositionelle Aktivitäten in den Kirchen, c) die Reformen in der Sowjetunion, die ab 1985 unter dem neuen Partei- und Staatschef Michael Gorbatschow vollzogen wurden, d) Proteste gegen Wahlfälschungen in der DDR, e) die Fluchtbewegung aus der DDR im Sommer 1989, f) Massenproteste auf den Straßen der Städte sowie g) ein rasanter Machtverfall der SED, der sich unter anderem im Rücktritt des Partei- und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, in der Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik und der Auflösung der Staatssicherheit zeigte.

  1. Zerfallserscheinungen der DDR: Die steigende Abhängigkeit von Krediten aus dem westlichen Ausland, die jedoch nicht zurückgezahlt werden konnten, führten zu einer Dysfunktionalität des Planwirtschaftssystems.[4] Daraus entstand eine Mangelversorgung der Bevölkerung in Hinblick aufWaren des täglichen Bedarfs oder Bekleidung. Zudem verfiel die Bausubstanz in den Innenstädten zunehmend. Ein weiteres Resultat waren massive Umweltverschmutzungen durch veraltete Industrieanlagen und rücksichtslosen Rohstoffabbau.
  2. Die Kirchen als Freiräume für Eigensinn und Opposition: Die Kirchen in der DDR, vor allem die evangelischen, waren die einzigen nichtstaatlichen Großinstitutionen im Land. Seit Beginn der 1980er-Jahre ergriffen sie selbst Initiative für die internationale Friedens- und bald auch für die Umweltbewegung. Im Rahmen der Gemeindearbeit entstanden Spielräume für Gläubige und Nichtgläubige. Dort konnten sie sich der direkten staatlichen Kontrolle entziehen und gesellschaftliche und politische Ideen entwerfen. Viele Pfarrer und Theologen wurden 1989 wichtige Figuren der Bürgerrechtsbewegungen.
  3. Reformen in der Sowjetunion ab 1985 unter dem neuen Partei- und Staatschef Michael Gorbatschow: Die enge Bindung der DDR an die Vorgaben, Entwicklungen und Unterstützungen der Sowjetunion (SU) seit 1949 endeten mit dem Reformkurs der SU Mitte der 1980er-Jahre. Die Reformen Glasnost (Aufhebung der staatlichen Zensur der Presse) und Perestroika (Lockerung der staatlichen Lenkung der Produktionsprozesse und der Wirtschaft) sollten der SU aus der wirtschaftlichen Krise helfen. Auch andere sozialistische Staaten im Ostblock übernahmen diese Reformen. Die DDR lehnte sie ab und verlor die Unterstützung der SU. Die Menschen in der DDR hingegen setzten ihre Hoffnungen in die Reformpolitik Gorbatschows.
  4. Protest gegen Wahlfälschungen in der DDR: Anfang Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Die SED erhielt erstmals keine 99-prozentige Zustimmung. Denn dieses Mal informierten Oppositionsgruppen die Wähler:innen, wie man etwa eine Nein-Stimme abgeben konnte und kontrollierten die Auszählungen der Wahlergebnisse. So konnten sie beweisen, dass die offiziellen Ergebnisse Betrug waren, den ohnehin viele vermuteten. Aus der Empörung über die Fälschungen gründeten sich DDR-weit Oppositionsgruppen, wie das Neue Forum oder der Demokratische Aufbruch.
  5. Fluchtbewegung im Sommer 1989: Ende der 1980er-Jahre stellten jährlich zehntausende DDR-Bürger:innen einen Antrag auf Ausreise aus der DDR. Im Frühsommer 1989 begann Ungarn, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen. In den Sommerferien nutzten tausende DDR-Bürger:innen den Urlaub in Ungarn zur Flucht über Österreich in die Bundesrepublik. In den Botschaften der BRD in Prag und Budapest wollten mehrere Tausend Menschen ihre Ausreise erzwingen. Anfang Oktober durften sie in die Bundesrepublik ausreisen.
  6. Massenproteste auf der Straße: Am 4. September 1989 fand die erste Montagsdemonstration in Leipzig statt. Die Staatssicherheit verhaftete Teilnehmer:innen. Am 2. Oktober protestierten bereits 20.000 Menschen in Leipzig, am 9. Oktober 70.000. Die Sicherheitskräfte griffen dieses Mal nicht ein. Fortan stieg die Zahl der Demonstrant:innen in Leipzig und anderen Städten der DDR von Woche zu Woche.
  7. Machtverfall der SED: Der Partei- und Staatsratsvorsitzende Erich Honecker wurde Mitte Oktober zum Rücktritt gezwungen. Neuer Parteichef wurde am 18. Oktober 1989 Egon Krenz. Er versprach Dialog und eine „Wende“. Doch den Bürger:innen war auch Egon Krenz zu sehr dem alten SED-Regime verbunden. Die Demons-trationen gingen weiter. Die Tschechoslowakei öffnete ihre Grenzen zur Bundesrepublik für DDR-Bürger:innen. Eine Flucht war nun sehr leicht. Die SED-Führung bereitete ein neues Reisegesetz vor, das quasi allgemeine Reisefreiheit brachte. Am Abend des 9. November 1989 verkündete Günter Schabowski auf einer internationalen Pressekonferenz in Unkenntnis der Sperrfrist der Reiseregelung, dass die Regelungen „ab sofort“ in Kraft treten würden. Tausende DDR-Bürger:innen kamen an die Grenzübergänge in Ostberlin. Die Grenzer hatten keine Befehle, waren überfordert und hoben schließlich die Grenzbäume. Bis Mitternacht waren alle Grenzübergänge in Berlin geöffnet. Die Mauer war „gefallen“. In Folge trat die Regierung Krenz zurück, der Führungsanspruch der SED wurde aus der Verfassung gestrichen, Erich Honecker aus der Partei ausgeschlossen. Im ganzen Land bildeten sich Runde Tische mit den Oppositionsgruppen. Sie waren Orte der Selbstdemokratisierung der DDR. Anfang Dezember wurde die Auflösung der Staatssicherheit beschlossen. Am 18. März 1990 fand zum ersten (und letzten) Mal eine freie und demokratische Volkskammerwahl in der DDR statt. Der Mehrheit der Wähler:innen stimmte für das konservative Wahlbündnis der CDU und damit auch für den Wunsch nach Wiedervereinigung.

Tipp: Allgemein gefasste Überblicksdarstellungen zu Politik, Alltag, Gründung und Zusammenbruch in der DDR gibt es auf dem Youtube-Kanal von Mr. Wissen 2 go:

Transformation in Ostdeutschland seit 1993[5]

Bereits vor der DDR-Volkskammerwahl im März 1990 gab es Überlegungen für eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik. Nach der Wahl nahm die neue DDR-Regierung Verhandlungen mit der Bundesregierung auf, denn täglich verließen immer noch mehrere Tausend DDR-Bürger:innen (Stand Januar 1990: 2.000, Stand April 1990: 5.000) die DDR in Richtung Bundesrepublik – eine enorme finanzielle und soziale Belastung für beide deutsche Staaten. Vor allem die Destabilisierung der DDR-Wirtschaft durch die Abwanderung und die politische Unsicherheit seit dem Mauerfall schritten immer schneller voran. Am 1. Juli 1990 trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. Sie war der erste Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und der demokratisch gewählten DDR-Regierung. Durch das Zusammenführen der Wirtschaftssysteme der beiden deutschen Staaten und die Einführung der D-Mark als alleiniges gemeinsames Zahlungsmittel bildeten die Grundlage für die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990. Damit waren für die Ostdeutschen schlagartige Veränderungen in allen wesentlichen Lebensbereichen verbunden. Diese Veränderungen wurden von den Menschen teils als gute Erfahrungen wahrgenommen, zum Beispiel die neuen Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Mitbestimmung, die gewonnene Reisefreiheit und der steigende Lebensstandard. Zugleich gingen mit den Veränderungen für viele Menschen schlechte Erfahrungen einher, zum Beispiel die Unsicherheit und die zunehmende Perspektivlosigkeit am Arbeitsmarkt, die Abwanderung Arbeitssuchender jüngeren Alters in wirtschaftlich boomende Regionen Westdeutschlands und die Besetzung von Führungsfunktionen mit Westdeutschen. Weil die vollständige Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten an die im Westen ausblieb, stellten sich bei zahlreichen Menschen in Ostdeutschland ein Gefühl des Abgehängtseins und ein Selbstbild als „Bürger:innen zweiter Klasse“ ein.

Um eine bessere Vorstellung von der Komplexität des Transformationsprozesses zu erhalten, lässt er sich auf den folgenden drei Ebenen darstellen:

  1. Wirtschaft: Ausgangspunkt für die wirtschaftlichen Veränderungen war der Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, durch den ab dem 1. Juli 1990 alles auf das westdeutsche System umgestellt wurde. Mit folgenden Konsequenzen: Der Umstellungskurs der Mark der DDR wurde auf das Verhältnis 1:1 gegenüber der D-Mark umgestellt. Zuvor war ein Kurs von 5:1 üblich. Die DDR-Betriebe mussten Löhne oder Rechnungen etc. fortan zum Umstellungskurs von 1:1 bezahlen. Gleichzeitig sank die Nachfrage nach dem Angebot aus der DDR-Produktion spürbar – die DDR-Bürger:innen bevorzugten nun die für sie neuen Westprodukte. Auf den bisherigen Absatzmärkten in Osteuropa wurden die Exportwaren aus der DDR-Produktion nun zu teuer.

Durch diese Veränderungen sank die Produktionsleistung der ostdeutschen Indus-trie im Jahr 1990 um 50 Prozent, bis 1992 noch einmal um 33 Prozent. Erst nach der Jahrtausendwende konnte sich die Produktionsleistung der ostdeutschen Wirtschaft – gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Arbeitsstunde – sehr langsam der westdeutschen annähern. Im Jahr 2020 kam sie auf ungefähr 80 Prozent des westdeutschen Niveaus. Hingegen erlebte die Wirtschaft in den westlichen Bundesländern in den 1990ern einen Boom durch die Markterweiterung nach Ostdeutschland sowie durch die Übernahme geeigneter Produktionsstätten. Die Ungleichheit von Einkommens- und Vermögensverhältnissen zwischen oben und unten und massive Unterschiede zwischen Ost und West waren der Grund dafür, dass Ostdeutsche weniger Chancen hatten, Geschäfte oder Betriebe nach den marktwirtschaftlichen Bedingungen zu übernehmen und umzustellen.

Als zentrales Instrument für die Steuerung der Transformation des ostdeutschen Wirtschaftssystems von der sozialistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft wurde zum 1. März 1990 die Treuhandanstalt geschaffen. Das Grundanliegen der Treuhand war zunächst, das vorhandene DDR-„Volksvermögen“ gesichert und anteilig an die ostdeutsche Bevölkerung auszugegeben. Eine genauere Überprüfung im April 1990 ergab jedoch, dass höchstens 33 Prozent der DDR-Betriebe unter marktwirtschaftlichen Bedingungen wettbewerbsfähig wären. Etwa 20 Prozent wurden als nicht überlebensfähig eingeschätzt, für die übrigen wären Investitionen erforderlich gewesen. Deshalb beschloss die DDR-Volkskammer, dass sich die Treuhandanstalt schwerpunktmäßig auf die Privatisierung und den Verkauf der DDR-Wirtschaftsbetriebe konzentrieren sollte. Davon ausgenommen war die Privatisierung von Banken, Versicherungen, der Bahn und die Energieversorgung. Diese wurden an bundesdeutsche Betreiber übertragen. In der Bilanz der Arbeit der Treuhandanstalt von 1990 bis zu ihrer Schließung 1994 wurden von mehr als 12.000 Betrieben mit etwa vier Millionen Beschäftigten gut die Hälfte privatisiert, 13 Prozent an Alteigentümer rückerstattet, 2,5 Prozent kommunalisiert und der Rest geschlossen. Von den mittleren und großen Betrieben gingen ca. 85 Prozent an westdeutsche Investoren und zehn Prozent an ausländische Käufer. Lediglich fünf Prozent der mittleren und großen Betriebe verblieben bei Ostdeutschen, meist im Rahmen von sogenannten „Kleinprivatisierungen“. Das heißt also, dass ein Großteil der ostdeutschen Unternehmen an ortsfremde Investoren verkauft wurde. Mehr als 66 Prozent aller Arbeitnehmer:innen in der ostdeutschen Industrie verloren Anfang der 1990er-Jahre ihre Beschäftigung: Von im Jahr 1990 über vier Millionen Arbeitsplätzen in den von der Treuhand übernommenen Betrieben bestanden 1994 nur noch 1,5 Millionen. Ende 1994 schloss die Treuhandanstalt mit einem Defizit von über 330 Milliarden D-Mark. Mehr als 120 Milliarden davon gehen auf die Tilgung von Altkrediten sowie auf Kosten für ökologische Sanierungen zurück. Für eine Mehrheit der Ostdeutschen wurde die Treuhand zum Synonym für Korruption, Arbeitsplatzvernichtung, Seilschaften, Deindustrialisierung und Ungerechtigkeit. Bis heute werden die Krisen und Konflikte der unmittelbaren Nachwendezeit mit der Treuhandanstalt verbunden. Recherchen und Aufarbeitung zur Treuhandanstalt rücken ihre Geschichte in ein milderes Licht. Skandale konnten aufgeklärt werden. Bisher aber verändert das nichts an der emotionalen Last.

Unter dem Begriff Aufbau Ost wurden seit 1990 verschiedene wirtschaftspolitische Maßnahmen und Anstrengungen eingeleitet, die das Ziel hatten, die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an die Verhältnisse im Westen der Bundesrepublik anzugleichen und so die massive Abwanderung aus Ostdeutschland zu beenden. Dafür wurden die ostdeutschen Bundesländer 1993 in den Länderfinanzausgleich mit einbezogen. Die Finanzierung des Aufbaus Ost endete am 31. Dezember 2019. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland war aber bis dahin nicht abgeschlossen. Nach einem zunächst raschen Aufholprozess in den 1990er-Jahren verharrten seit den 2000ern die Unterschiede in etwa auf gleichbleibendem Niveau. Die ostdeutschen Länder erreichten bei den wesentlichen wirtschaftlichen Indikatoren (etwa Lohnniveau, Bruttoinlandsprodukt usw.) zwischen 70 und 80 Prozent des Westniveaus. Große Unterschiede bestanden zwischen Wachstumsregionen wie Leipzig oder dem Berliner Umland und weiten Teilen des ländlichen Raumes, die mit zunehmenden Schrumpfungsprozessen konfrontiert waren und sind. Als gelungen gilt der Aufbau Ost vor allem in den Bereichen, die direkt dem staatlichen Zugriff unterliegen, etwa die Verkehrsinfrastruktur, der Städtebau, der Umweltschutz (Altlastenbeseitigung, Bergbaufolgesanierung, Gewässerschutz etc.) oder die Bereiche Wissenschaft und Forschung.

  1. Umstrukturierung des Bildungssystems: Zu den Forderungen der Oppositions- und Bürgerrechtsgruppen gehörte 1989 auch eine grundlegende Reform des Bildungssystems. Im November 1989 wurden die politisch-indoktrinierenden Fächer „Wehrunterricht“ und „Staatsbürgerkunde“ aus dem Lehrplan genommen. Mit der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 ging die Bildungshoheit an die jeweiligen neu geschaffenen Länder in Ostdeutschland über. Das Bildungssystem in Ostdeutschland wurde entsprechend den westdeutschen Strukturen umgestellt. Erstmals konnten sich ab 1990 auch wieder Schulen in freier Trägerschaft gründen.

Neue Schulgesetze in den ostdeutschen Bundesländern regelten die grundlegenden Bildungs- und Erziehungsziele, so unter anderem das Recht auf Bildung, den gleichen Zugang zur Schule unabhängig von der Herkunft oder dem sozialem Hintergrund der Schüler:innen sowie die Vermittlung der im Grundgesetz verankerten Werte. Neben der Regelung der verschiedenen Schularten entschieden sich einige ostdeutsche Bundesländer für eigene Modelle des Schulwesens. So lehnte Sachsen beispielsweise die Einführung von Gesamtschulen ab und behielt gemeinsam mit Thüringen das Abitur nach der 12. Klasse bei.

Die Besetzung vor allem der Lehrer:innenstellen veränderte sich in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung infolge von Personalabbau, Entlassungen nach der Überprüfung auf Zusammenarbeit mit dem DDR-Geheimdienst MfS sowie Überhangs von Lehrer:innen für DDR-typische oder -spezifische Schulfächer wie Staatsbürgerkunde, Technisches Zeichen oder Einführung in die sozialistische Produktion. Gleichzeit lag ein Mangel an Personal für den nun benötigten Fremdsprachenunterricht vor.

Alles in allem kam es zwar zu einer Reduzierung des bestehenden Lehrpersonals, eine Erneuerung gab es jedoch nicht. Anders als an den Hochschulen war das Schulwesen in Personalangelegenheiten eher von Kontinuität geprägt.[6]

  1. Migration und Demografie: Die DDR hatte Zeit ihres Bestehens von 1949 bis 1990 mit massiver Abwanderung zu kämpfen: Im Jahr ihrer Gründung lag die Bevölkerungszahl bei 18,79 Millionen. Bis zum Jahr 1989 sank diese auf rund 16,43 Millionen Menschen. Auch nach Mauerfall und Wiedervereinigung blieben die Abwanderungszahlen hoch: 1991 bis 2015 verließen ca. 1,2 Millionen Einwohner:innen Ostdeutschland. Dabei zog es vorwiegend jüngere Jahrgänge im erwerbsfähigen Alter nach Westdeutschland, vor allem wegen des besseren Angebots an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen sowie höhere Löhne. Die Arbeitslosenquote unter Frauen war seit Beginn der Transformationsphase in Ostdeutschland doppelt so hoch wie die unter Männern. Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes hatten sie in Ostdeutschland geringere Chancen auf Neueinstellung, hauptsächlich waren Alleinerziehende betroffen.

Die Abwanderung bedeutete auch enorme Verluste in den betroffenen Kommunen bei Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträgen. Im ländlichen Raum sind durch die Abwanderung Gebiete mit einer stark überalterten Bevölkerung entstanden. Diese verschlechtert die Entwicklung von Wirtschaftsstandorten im regionalen Umfeld bis heute. Daraus resultierten wiederum Probleme für Versorgung und Lebensqualität der verbleibenden Einwohnerschaft, etwa in der medizinischen Versorgung oder Anbindung an den ÖPNV.

Größere ostdeutsche Städte hingegen konnten diese Entwicklung umkehren und sind heute Zuzugsgebiete: Leipzig, Potsdam, Dresden, Erfurt, Jena, Rostock, Halle und Magdeburg. Nach Ostdeutschland zieht es überwiegend ältere Jahrgänge sowie ab Anfang der 2000er-Jahre Studierende.

Jene Ostdeutsche, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung in Rente gingen, erhielten spürbar höhere Rentenbeträge (zum Teil um mehr als das Dreifache), als sie in der DDR bekommen hätten. Aber: Für alle anderen Arbeitnehmer:innen konnte sich jedes Jahr auf dem neuen unsicheren Arbeitsmarkt negativ auf die Arbeitsbiografie und damit auf die Rentenansprüche auswirken.[7]

Das Statistische Bundesamt prognostizierte 2018 einen Rückgang der Gesamtbevölkerung Deutschlands auf 76,5 Millionen bis 2060. Die Einwohnerzahl in Ostdeutschland würde um weitere drei Millionen (23,9 Prozent) zurückgehen, in Westdeutschland um 3,6 Millionen (5,7 Prozent). Zum Vergleich: 1990 lag der gesamtdeutsche Bevölkerungsanteil Ostdeutschlands bei 20,1 Prozent – 2060 könnte er damit auf 12,5 Prozent zurückgehen.[8]

Folgen der Transformation

Zu den zentralen Merkmalen der ostdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung nach 1990 gehörten die Arbeitslosigkeit und ihre Folgen. Periodische oder auch dauerhafte Arbeitslosigkeit war die Schockerfahrung für die ostdeutschen Erwerbstätigen in der Transformationszeit. Sie stand im Kontrast zur bisherigen Vollbeschäftigung in den mehrheitlich staatlichen Betrieben der DDR. Die DDR-Sozialpolitik sicherte den DDR-Bürger:innen ab den 1970er-Jahren die Existenz, unabhängig von ihren beruflichen Leistungen. Die „Vollbeschäftigung“ rührte aus dem „Recht auf Arbeit“, das verfassungsmäßig verankert war und tatsächlich die Pflicht zur Arbeit bedeutete. Diese Erfahrungen bilden den zentralen Vergleichsmaßstab für die sozialen Strukturen und Wertorientierungen der Ostdeutschen in der Zeit nach 1990.

Die stetig steigenden Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland lassen sich auf den Verkauf oder die Schließung von Industriebetrieben, wie es sie in nahezu jeder Region der DDR gab, zurückführen. Oftmals waren in den Betrieben und Kombinaten mehrere Tausend oder Zehntausend Menschen beschäftigt.

Das symbolträchtige Ende von DDR-Kernmarken wie beispielsweise Trabant oder Interflug führte im Frühjahr 1991 an bedrohten Industriestandorten zu Protesten, Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen.[9]

Die Beschäftigtenzahlen sanken von 9,8 Millionen 1989 auf 6,3 Millionen 1994 und weiter auf nur fünf Millionen 1999. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen in der Nachwendezeit wurde noch von der Gesamtmenge aus Kurzarbeiter:innen, Teilnehmer:innen an arbeitsschaffenden und qualifizierenden Maßnahmen sowie Vorruheständlern überstiegen.

Mit der Transformation der Arbeitswelt in Ostdeutschland ging eine als oftmals radikal erlebte Unsicherheit einher: Bisher erworbene Kompetenzen und erlangte Qualifikationen verloren ihren Wert. Arbeitsformen und Berufsfelder veränderten sich radikal oder entstanden neu. Unklar war, welche Branchen weiterhin Beschäftigungsperspektiven bieten konnten.

Nicht zuletzt verschwanden mit den DDR-Betrieben nicht nur die Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit, sondern ebenso die bisherigen Zentren der privaten Lebensorganisation.

Die Politische Kultur, das heißt das politische Denken und Handeln von Menschen, lässt sich unter anderem an ihrer Orientierung und ihrem Engagement im politischen Parteienspektrum, am Umgang mit Asylsuchenden und Immigrant:innen sowie in ehrenamtlich-zivilgesellschaftlicher Betätigung ablesen. Zum Verständnis der politischen Kultur einer Gesellschaft schaut man auf die Faktoren, die sie prägen.

Das politische Denken und Handeln von Menschen in und aus Ostdeutschland war seit der Wiedervereinigung 1990 von den Erfahrungen in zwei politischen Systemen geprägt, die immer wieder miteinander abgeglichen wurden. Den Diktaturerfahrungen standen fortan neue Erfahrungen im bundesdeutschen politischen System gegenüber. Zu den wesentlichen Einflussfaktoren auf die politische Kultur in Ostdeutschland seit 1990 zählen daher die enttäuschten Erwartungen bezüglich der deutschen Einheit: 1990/91 hielten noch etwa 65 Prozent der Ostdeutschen das SED-System verantwortlich für die damals akute ostdeutsche Arbeitsmarkt- und Wirtschaftskrise. 1994 waren es nur noch gut 33 Prozent. Inzwischen suchte eine Mehrheit die Ursachen in der Einführung der sozialen Marktwirtschaft und der Treuhandpolitik.

Das blieb nicht ohne Folgen für die politische Kultur, denn: Die Bindung des Einzelnen an das Gemeinwesen und seine Institutionen hängt stark von der Einbindung in das Erwerbsleben und von der Teilhabe an den durch die Erwerbsarbeit erlangten Gütern und Leistungen ab. Die in den 1990er-Jahren dauerhaft unsichere Beschäftigungslage und strukturelle Arbeitslosigkeit hatten Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima und die Zufriedenheit mit dem politischen System.

Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in Führungsfunktionen (und zwar nicht allein auf gesamtdeutscher Ebene, sondern auch in Ostdeutschland selbst) gehört auch noch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zu den Hemmnissen der Identifikation mit der Bundesrepublik.[10]

Begonnen hat diese Entwicklung mit der grundlegenden Systemangleichung von Wirtschaft, Verwaltung und Politik unter Anleitung durch westdeutsche Fachleute. Zwischen 1990 und 1994 wechselten zeitweilig oder dauerhaft 35.000 Westdeutsche in die öffentliche Verwaltung der ostdeutschen Länder, womit der Anteil ostdeutscher Spitzenbeamter stark abnahm. Ähnliches geschah in Militär, Justiz, Massenmedien sowie in Geistes- und Sozialwissenschaften. Bei der Abwicklung und Neuaufstellung des Personals unter anderem bei Behörden und Hochschulen hatten Ostdeutsche sehr häufig das Nachsehen. Und nicht alle ehemaligen DDR-Berufs- und Hochschulabschlüsse wurden trotz der im Einigungsvertrag vorgesehenen Gleichwertigkeit wegen Unterschieden im Ausbildungsgang anerkannt. Diese Praxis wurde erst 1997 durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts untersagt.

Mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung waren in den höchsten Führungsebenen je nach Erhebung und Bereich ein bis vier Prozent Ostdeutsche vertreten – bei einem Bevölkerungsanteil von etwa 17 Prozent. In den oberen und mittleren Führungsfunktionen von Verwaltung, wissenschaftlichen Institutionen und Justizwesen in Ostdeutschland betrug ihr Anteil Mitte der 2000er-Jahre weniger als 30. Die von den westdeutschen Führungskräften geknüpften Netzwerke waren und sind stark westdeutsch geprägt.

Als ein weiteres Merkmal der politischen Kultur in Ostdeutschland wird eine fehlende Praxis im Zusammenleben mit zugewanderten Menschen ins Feld geführt. Zwar wurde in der DDR die internationale Solidarität mit den sozialistischen „Bruderländern“ propagiert, aber Kontakte zwischen Ostdeutschen und in der DDR stationierten oder arbeitenden Ausländer:innen (vor allem Vertragsarbeiter:innen) wurden vom Staat eher unterbunden als gefördert. Anfang 1989 lebten ca. 166.000 längerfristig aufenthaltsberechtigte Ausländer:innen in der DDR (ein Prozent der Bevölkerung).[11]

Zu Beginn der 2020er-Jahre lag der Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland bei gut sechs Prozent, in den westdeutschen Flächenländern dagegen zwischen 25 Prozent und mehr als 30 Prozent der Gesamtbevölkerung.[12] Aus demografischen und wirtschaftlichen Gründen wäre eine weitere Einwanderung auf hohem Niveau nötig. Doch liegt besonders in Gebieten, die von Abwanderung, Mangel an modernen Arbeitsplätzen und schwindenden Angeboten der Daseinsvorsorge geprägt sind, häufig nur eine geringe Wahlbeteiligung vor. Die entscheidenden Stimmanteile für den Einzug in den Bundestag erhielt die rechtspopulistische AfD 2017 durch die Stimmenabgabe in Ostdeutschland.[13] Zusammengenommen mit den zeitweise beachtlichen Mobilisierungserfolgen von „PEGIDA“ war Ende der 2010er-Jahre medial pauschal und typisierend die Rede vom „rechtsradikalen Osten“. Dabei ergab die Mitte-Studie 2018/2019, dass der Anteil der Befragten, die ein manifest rechtsextremes Weltbild zeigten, in Ost- wie in Westdeutschland bei jeweils 2,4 Prozent” lag.

Tipp: Aktuelle Bilanzen zur Angleichung von Ost- und Westdeutschland gibt es unter:

[1] Vgl. https://deutsche-einheit-1990.de/friedliche-revolution/.

[2] Mit der Bezeichnung „Ostdeutschland“ ist hier das Gebiet der ehemaligen DDR gemeint, das seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 der Bunderepublik Deutschland beitrat. Es umfasst die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen.

[3] Vgl. Kerstin Brückweh, Clemens Villinger, Kathrin Zöller (Hrsg.) 2020: Die lange Geschichte der „Wende“, Ch.  Links Verlag, S. 42. Die Autor:innen beziehen sich hier auf die Definition des Osteuropahistorikers Philipp Ther.

[4] Vgl. https://www.bpb.de/themen/deutschlandar-chiv/513381/alles-nach-plan/.

[5] Vgl. Wikipedia: Ostdeutschland seit 1990: https://de.wikipedia.org/wiki/Ostdeutschland_seit_1990 sowie: Bundesstiftung Aufarbeitung: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/sites/default/files/uploads/files/2021-03/die_transformation_ost deutschlands_seit_1990.pdf.

[6] Mehr: Bernd Martens, 2020: Die Wende in den Schulen, unter: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/ lange-wege-der-deutschen-einheit/47305/die-wende-in-den-schulen/

[7] Mehr: Axel Salheiser, 2021: Welche Akzeptanz hat die repräsentative Demokratie in Ostdeutschland?, unter: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340472/welche-akzeptanz-hat-die-repraesentative-demokratie-in-ostdeutschland/

[8] Mehr: Bernd Martens, 2020: Der Zug nach Westen – Jahrzehntelange Abwanderung, die allmählich nachlässt, unter: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47253/der-zug-nach-west en-jahrzehntelange-abwanderung-die-allmaehlich-nachlaesst/#node-content-title-1

[9] Mehr: Interview mit Dr. Marcus Böick, Ruhr-Universität Bochum, 2019: Überall Zufriedenheit? Proteste in den neuen Ländern zwischen 1991 und 1994 CC BY-NC-ND 4.0, unter: https://www.bpb.de/mediathek/video/298483/ ueberall-zufriedenheit-proteste-in-den-neuen-laendern-zwischen-1991-und-1994/

[10] Mehr: Holger Lengfeld, 2019: Kaum Posten für den Osten. Das Ausmaß und mögliche Ursachen der Unterrepräsentanz von Ostdeutschen auf Führungspositionen in Ostdeutschland, unter: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/296773/kaum-posten-fuer-den-osten/

[11] Mehr: Patrice G. Poutrus, 2021: Vor der Deutschen Einheit. Migrantisches Leben im geteilten Deutschland, unter: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/migrantische-perspektiven/327660/vor-der-deutschen-einheit-migrantisches-leben-im-geteilten-deutschland/

[12] Mehr: Patrice G. Poutrus, 2020: Ausländer in Ostdeutschland, unter: https://www.bpb.de/themen/deutsche-ein heit/lange-wege-der-deutschen-einheit/314193/auslaender-in-ostdeutschland/#node-content-title-1

[13] Mehr: Berthold Vogel, 2020: Schrumpfende Regionen: ein ostdeutsches Schicksal?, unter: https://www.bpb.de/the men/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47550/schrumpfende-regionen-ein-ostdeutsch es-schicksal/

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