Seminareinheit: Wie verläuft Erinnerung?

Seminareinheit

Wie verläuft Erinnerung?

 

Dauer: 90 min
Technische Voraussetzungen: ggf. Internetzugang
Arbeitsmaterial:

Einführungstexte:

 

Kurzbeschreibung

Thema

Die Seminareinheit gibt eine Einführung in Wahrnehmungs-, Speicher- und Erinnerungsprozesse von Menschen. Erinnerungen sind nicht nur Teil der alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern längst Bestandteil in der Bildungsarbeit, zumeist zu historischen Themen. Geschichte baut immer auch auf Erinnerungen auf. Die Seminareinheit hilft, die Teilnehmer:innen für die Thematik zu sensibilisieren, um diese anschließend an einer konkreten Zeitzeug:inerzählung nachzuvollziehen und zu analysieren.

Didaktische Hinweise

Das Seminarangebot „Wie funktioniert Erinnerung?“

  • setzt zu Beginn an den eigenen Erfahrungen der Teilnehmer:innen mit ihren Erinnerungen an.
  • bietet eine allgemeine Einführung in die Wahrnehmungs-, Speicher- und Erinnerungsprozesse von Menschen.
  • bietet an einer konkreten Zeitzeugenerzählung Gelegenheit, Erinnerungsprozesse nachzuvollziehen und zu analysieren.
  • setzt keine Vorkenntnisse der Teilnehmer:innen zum politischen Umbruch von 1989/90 voraus, sie sind aber von Vorteil.
  • kann durch ein Interview der Teilnehmer:innen mit dem Zeitzeugen Sandro vertieft werden. Den Kontakt erhalten sie über den Zeitzeugenpool auf dem Zeitenwende-Lernportal.

Lernziele

  • Die Teilnehmer:innen wissen um die Subjektivität und den Konstruktionscharakter historischen Erzählens.
  • Die Teilnehmer:innen erweitern ihr Verständnis von Erinnerungsprozessen und erkennen, dass verschiedene, auch widersprüchliche Erinnerungen nebeneinanderstehen können.

Ablaufvorschlag

Vorbereitung

Der:Die Referent:in erwirbt Hintergrundwissen zum Prozess des Erinnerns im Einführungstext „Wahrnehmen, Speichern, Erinnern“.

Arbeitsphase 1
 

  1. Die Teilnehmer:innen finden zu zweit zusammen.
  2. Der:Die Referent:in gibt als Gesprächsthema ein Erlebnis vor, bei dem alle Teilnehmer:innen dabei waren – bspw. den ersten gemeinsamen Tag im Seminar oder den gestrigen Abend.
  3. Jeweils ein:e Partner:in jedes Zweierteams spricht 3 min. assoziativ über das Erlebnis. Dabei führt der:die sprechende Partner:in sozusagen einen Monolog, der in erster Linie für den:die Sprechende:n selbst bestimmt ist. Der:Die zuhörende Partner:in bietet sich lediglich als eine Art ‘Resonanzkörper’ an, zu dem gesprochen wird, an den das Gesagte aber weder als Information noch als Botschaft oder Appell adressiert ist.
  4. Der:Die zuhörende Partner:in ist aufgefordert, die Erzählung weder durch Kommentare oder Nachfragen, noch durch Mimik oder Gesten zu beeinflussen.
  5. Nach 3 min. wird die Erzählung unterbrochen und die Partner:innen tauschen die Rollen.
  6. Nach weiteren 3 min. ist jeder:jede Teilnehmer:in aufgefordert, das Gehörte zusammengefasst der gesamten Gruppe mitzuteilen. Dabei soll auch über Selbstreflexionen in Bezug auf das eigene Erzählerlebnis gesprochen werden. (Der:Die Referent:in entscheidet je nach verfügbarer Zeit, wie viele Berichte gehört werden).
  7. Im Anschluss der Übung ordnet der:die Referent:in das Berichtete im Hinblick auf die Eigenschaften und den Prozess des Erinnerns ein. Dabei kann sie den Teilnehmer:innen anhand ihrer Erzählungen deutlich machen, dass sie:
  • nicht vollständig die gleichen Erinnerungen teilen, also einiges vergessen, einiges außenvorlassen,
  • einiges in den Fokus rücken,
  • einiges anders wahrgenommen oder gedeutet haben,
  • unterschiedliche Erinnerungen nebeneinanderstehen können und
  • sie sich ihre Erinnerungen teilen.
Arbeitsphase 2
 

  1. Der:die Referent:in stellt die Arbeitsblätter „Zeitzeug:innen beim Erinnern folgen, 1: Sandro vor der Neuen Wache“ und „Zeitzeug:innen beim Erinnern folgen, 2: Sandro auf der Schaukel“) analog oder digital zur Verfügung.
  • Die Teilnehmer:innen bilden 2 oder 4 Arbeitsgruppen (je nach Gruppengröße).
  • Jede Arbeitsgruppe widmet sich dem Inhalt und den Aufgaben eines Arbeitsblattes.
  • Im Anschluss der Bearbeitung stellen die Arbeitsgruppen die Erinnerungen des Zeitzeugen zu dessen privaten Alltagsfotos im Plenum vor und beantworten die Fragen.
  • Der:Die Referent:in ergänzt ggf. die Antworten der Teilnehmer:innen:

Arbeitsblatt: „Wie verläuft Erinnerung?, 1: Sandro vor der Neuen Wache“:

Fragen mögliche Antworten
Wie verläuft Sandros Erinnerung zu dem Foto „Vor der Neuen Wache“? –        Sandro steigt damit ein, zu benennen, wo das Foto entstanden ist und was zu sehen ist: Berlin, Gedenkort Neue Wache, er selbst als Kind mit seinem Vater.

–        Schnell kommt er auf den Anlass des Fotos zu sprechen: Besuch in Berlin während eines Urlaubs nahe Berlin.

–        Der Hauptteil von Sandros Erzählung dreht sich um die Neue Wache: wiederkehrender Anlaufort bei Besuchen in Berlin, Faszination für Armee/Militär durch Inszenierung der Wachablösung, sowie durch NVA-Erfahrungen und Kampfgruppentätigkeit des Vaters – weiter: promilitärische Prägung durch Kinderbuch, in dem Freund-Feind-Bild Kommunismus vs. Kapitalismus klar deutlich wurde und Lust auf/Faszination für Armeedienst entfachte.

–        Sandro nimmt noch einmal Bezug zur Neuen Wache: „immer ein Muss“ – verbunden mit der Melodie des gespielten Radetzkymarschs = „coole Erinnerung“.

–        Seine Erinnerung ist verknüpft mit mehreren Sinnen und vielen positiven Emotionen.

–        Dann erfolgt ein Gedankensprung, durch „auch coole Erinnerung“: Erinnerung an Hunger beim kleinen Sandro während des/oder eines Berlinbesuchs – er sollte sich schon in dem Alter selbst am Imbiss etwas zu essen kaufen – benennt gewünschte Boulette aber falsch als „Stieglitz“ (warum, wird nicht klar) – Verkäuferin reagiert entsprechend verwirrt – Geschichte wird in der Familie bis heute zur Anekdote „Weißt du noch, als du damals …?“

–        Insgesamt verläuft die Erinnerung assoziativ, an Gefühle, Gerüche oder Bedürfnisse geknüpft – das Foto löst in Sandro heute zwei Erinnerungsgeschichten aus, die inhaltlich rein gar nichts miteinander zu tun haben.

Was schildert Sandro in seinen Erinnerungen? –        Das Foto erinnert Sandro an einen Berlinbesuch als kleiner Junge, gemeinsam mit seinen Eltern. Des Weiteren verknüpfen sich seine Erinnerungen an viele weitere Berlinbesuche, die stets in Zusammenhang mit Urlaub in dem Ort Rangsdorf, unweit von Berlin, standen.

–        Sandro beschreibt ausführlich Erinnerungen an das militärische Zeremoniell der Wachablösung am Gedenkort der Neuen Wache in Berlin. Diese Erinnerungen sind für ihn mit starken Emotionen verbunden, die er auch als Auslöser für seine kindliche Faszination für Militär und Armeedienst ausmacht. Diese Begeisterung führte ihn schließlich zu seinem konkreten Berufswunsch: Soldat bei der NVA, der Nationalen Volksarmee der DDR.

–        Diese „coole Erinnerung“ bringt Sandro dann auf eine weitere „coole Erinnerung“, die inhaltlich völlig losgelöst von der Neuen Wache ist: Eine Anekdote um die Boulette, die er kaufen wollte und fälschlicherweise „Stieglitz” nannte. Diese Anekdote wird in seiner Familie später wie ein Running Gag häufig wiederholt und gehört dadurch zur gemeinsam geteilten Erinnerung in Sandros Familie.

 

In welchem Verhältnis steht das Bildmotiv zu den Inhalten aus Sandros Erinnerungen, die er, ausgehend vom Foto, erzählt? –        Das Bildmotiv Neue Wache ist Gegenstand von Sandros Erinnerung: als Ort, der ihn als Kind aufgrund der militärischen Inszenierung fasziniert und geprägt hat; als Ort, den die Familie immer wieder besucht hat, weshalb sich möglicherweise seine Faszination verstärkt hat.

–        Die Funktion des Ortes Neue Wache zu DDR-Zeiten als Gedenk- und Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus selbst wird von ihm nicht thematisiert. Hier verbinden sich also offizielle Erinnerung und individuelle Erinnerung nicht miteinander, obwohl Sandro mehrfach intensive Besuche mit dem Ort erlebt hat.

–        Aber: das Ziel der öffentlichen Inszenierung, militärische Stärke und Faszination auf Besucher:innen auszuüben, erfüllte sich bei Sandro offenbar dennoch.

–        Auch über den Vater spricht Sandro, jedoch nicht als Person auf dem Bild. Vielmehr erinnert er sich assoziativ an dessen frühere Tätigkeit bei der NVA und den Kampfgruppen der DDR.

–        Die Anekdote über die „Stieglitz“-Boulette ist schließlich völlig losgelöst vom Bildmotiv. Sie steht am Ende seiner Erinnerungen und ist damit Ausdruck der Aneinanderreihung von Assoziationen, die ein Erinnerungsimpuls, wie das Foto auslösen können und die sich immer weiter vom eigentlichen Thema oder Motiv lösen können.

 

Arbeitsblatt „Wie verläuft Erinnerung?, 2: Sandro auf der Schaukel“

Fragen mögliche Antworten
Wie verläuft Sandros Erinnerung zu dem Foto „Auf der Schaukel“? –        Sandro benennt zuerst den Ort Rangsdorf, in dem das Foto entstanden ist. Rangsdorf ist ihm als Urlaubsziel seiner Familie in Erinnerung, an dem sie „sehr oft gewesen“ sind.

–        Die ersten Erinnerungen verbinden sich für Sandro gleich mit „Assoziationen“ an den Geruch von Nadelholz und den Geschmack von Pfirsichen.

–        Dann ordnet Sandro die Schaukel, auf der er auf dem Foto sitzt, einem Spielplatz mit weiteren Spielmöglichkeiten wie einem Karussell oder einer Tischtennisplatte zu.

–        Den ersten Gedankensprung macht Sandros Erinnerung, indem er mit den Urlauben in Rangsdorf auch immer Ausflüge nach Berlin verbindet, die für ihn „immer ein Abenteuer“ waren.

–        Schließlich kommt Sandro zu einer ausführlicheren Schilderung über einen Scherz, den sein Bruder seiner damaligen Freundin auf dem Feriengelände in Rangsdorf gespielt hat. Diese „Alberei“ führte damals offenbar dazu, dass sich der Vater gegenüber den staatlichen Stellen äußern musste.

–        Die nächste Erinnerung an Rangsdorf macht inhaltlich erneut einen großen Sprung: Sandro bezeichnet als „einzige schlechte Erinnerung“, wenn er mit den Eltern Pilze sammeln musste. Erneut kommt er auf die Besuche in Berlin zu sprechen, er bespricht die Anfahrt per Zug und seine Erinnerungen und Assoziationen über Westberlin, die er damals hatte: negative Zuschreibungen aus Erzählungen über die andere Welt Westberlin.

Was schildert Sandro in seinen Erinnerungen? –        Das Foto erinnert Sandro an Urlaube in dem Ort Rangsdorf als kleiner Junge, gemeinsam mit seinen Eltern. Des Weiteren verknüpfen sich seine Erinnerungen an viele weitere Berlinbesuche, die stets in Zusammenhang mit dem Urlaub in dem Ort Rangsdorf, unweit von Berlin, standen.

–        Besonders ausführlich beschreibt Sandro die Erinnerungen an einen Streich seines Bruders an dessen damaliger Freundin, durch den sie einen Teil ihres Bikinis verlor. Offenbar wurde dies den staatlichen Stellen zugetragen oder beobachtet – das geht aus Sandros Erzählungen nicht hervor. Aber der Vater musste anschließend deswegen Stellung nehmen. Diese Entwicklung habe Sandro, wie er beschreibt, das erste Mal ins Nachdenken „über unser System in der DDR“, „inklusive Staatssicherheit und Spitzel“ gebracht.

–        Zu Beginn und am Ende seiner Assoziationen zum Bild auf der Schaukel in Rangsdorf schildert Sandro Eindrücke und Gefühle, die er bei Ausflügen nach Berlin hatte, die wohl stets zum Urlaub in Rangsdorf dazugehörten. Berlin übte auf Sandro als Kind eine starke Faszination aus, bspw. mit der U-Bahn zu fahren oder an einigen Stellen die Hochhäuser in Westberlin zu sehen und die Faszination und Neugier zu spüren, dass da drüben „der böse Kapitalist“ lebte.

In welchem Verhältnis steht das Bildmotiv zu den Inhalten aus Sandros Erinnerungen, die er, ausgehend vom Foto, erzählt? –        Das Bildmotiv des kleinen Sandro auf einer Schaukel ist eigentlich gar nicht Gegenstand von Sandros Erinnerung: es ist lediglich der Impuls, über den Ort, in dem die Schaukel steht – nämlich Rangsdorf – zu erzählen. Rangsdorf war für Sandros Familie oft Urlaubsort, an dem es „immer schön“ war.

–        Dennoch berichtet Sandro über seine Wahrnehmung des Urlaubs, der Erwachsenwelt und vor allem der Stadt Berlin, in die die Familie von Rangsdorf aus stets auch fuhr. Allerdings dürften die erzählten Erinnerungen aus einer späteren Zeit kommen, als Sandro älter war, als auf dem Foto abgebildet.

–        Weder auf dem Bild noch in Sandros Schilderungen wird der Urlaubsort Rangsdorf noch das Feriendomizil genauer beschrieben, so dass man sich als Leser:in oder Zuhörer:in ein Bild davon machen könnte. Offenbar spielen in Sandros Erinnerungen deshalb die Erfahrungen und Erlebnisse während der Rangsdorf-Urlaube (auf dem Spielplatz sein, Pilze sammeln – igitt, Ausflüge nach Berlin unternehmen) eine größere Rolle. Der Ort ist nur in dem Punkt von Interesse, dass er nah an Berlin liegt.

Arbeitsphase 3
 

  1. Die Teilnehmer:innen reflektieren ihre erzählte Erinnerung vom Beginn der Seminareinheit mit den Erkenntnissen aus der Übung und der Auseinandersetzung mit den Erinnerungsprozessen von Zeitzeug:innen. Sie notieren sich zwei Beispiele, in denen sich die Ausführungen auf ihre erzählten Erinnerungen anwenden lassen.
  2. Die Teilnehmer:innen berichten sich in der gesamten Gruppe gegenseitig darüber.