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Sandro, geboren 1975
in Halle (Saale)

„Mit dem Mauerfall wurde mein Traum, Berufssoldat der NVA zu werden, zerstört – der ‘böse Kapitalist’ im Westen war nicht mehr unser Feind, sondern ist zu einem Freund geworden“

Kurzbiografie

Sandro wird 1975 in Halle (Saale) geboren und wächst in einem kleinen Ort bei Weißenfels auf. Als Kind spielt er meist mit seinen Freunden draußen in der Natur. Das ist für sie ein großes Abenteuer, manchmal übernachten sie allein im Zelt. In seiner Kindheit auf dem Dorf fühlt er sich behütet und beschützt. Er übernimmt immer wieder Aufgaben im Haushalt und lernt früh, auch älteren Menschen im Haus zu helfen. Mit vier Jahren lernt er Fahrrad fahren und radelt fortan allein in den Kindergarten.

1982 kommt Sandro in die Schule. Er ist ein durchschnittlich guter Schüler. Viel wichtiger sind ihm aber die gemeinsamen Nachmittage mit seinen Freunden. Schon als Kind lernt er, dass man in der DDR nicht alles kaufen, vieles aber selber bauen oder reparieren kann. Als 1983 der australische Film Die BMX-Bande auch die Jugendlichen in der DDR begeistert, bauen sich die Freunde ihre BMX-Räder selbst.

Bereits früh hat Sandro den Wunsch, nach der Schule zur NVA zu gehen und Offizier zu werden. Diesen Traum hält er mit dem Kinderbuch Meine Nationale Volksarmee wach. Er verbindet mit seinem Berufswunsch die Vorstellung, sein Land DDR vor „dem bösen Kapitalisten aus dem Westen“ beschützen zu müssen, so, wie er es im Kindergarten und in der Schule lernt.

Zu Beginn des 7. Schuljahres – Sandro ist 14 Jahre alt – gibt es in Leipzig die ersten Demonstrationen nach dem Friedensgebet montags in der Nikolaikirche. Sandro sieht die Montagsdemonstrationen im Fernsehen. Viele seiner Freunde fahren sogar nach Leipzig, weil sie schauen wollen, was auf den Demos los ist. Bei Sandro zuhause hingegen läuft alles weiter wie immer. Dass am 9. November 1989 dann sogar die Grenzen geöffnet werden, erfährt er erst am nächsten Tag in der Schule, als er sich darüber wundert, dass nur so wenige Mitschüler da sind. Aufgeregt erzählt er seinen Eltern zuhause vom Mauerfall. Die wissen zwar schon Bescheid, scheinen aber ganz gelassen zu sein. Sandro hat den Eindruck, dass sie sich erst einmal klar werden wollen, was der politische Umbruch nun bedeuten könnte.

Für Sandro bricht mit der DDR auch seine Vorstellung von der Zukunft zusammen. Auf einmal kann er nicht mehr Offizier der NVA werden. Der einst „böse Feind“ ist nun zu einem Freund geworden, der die DDR-Bürger mit Geld begrüßt und mit ihnen eine gemeinsame Zukunft aufbauen will. Sandro will Gutes bewirken, doch alles, woran er bisher geglaubt hat, ist binnen weniger Monate nicht mehr gültig. Er muss sich neu orientieren.

Sein persönliches Umfeld bleibt nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands im Großen und Ganzes stabil. Aus dem festen Freundeskreis ziehen nur wenige in den Westen. Aber seine Eltern und Verwandten machen Anfang der 1990er-Jahre die Erfahrung, dass ihre Betriebe schließen, sie ihre Arbeit verlieren und manche ihre bisherigen Berufe nicht mehr ausüben können. Sandro beobachtet, dass sie erst einmal nicht wissen, wie es weitergeht. Sie müssen zum Teil neue Berufe erlernen.

Er hingegen entdeckt in der neuen Freiheit aber auch neue Möglichkeiten: Er kann sich jetzt beispielsweise die T-Shirts seiner Lieblingsbands kaufen, die er sich vor 1989 noch mühsam selbst bemalt hat. Und auch deren Musik bekommt er nun ganz einfach auf Platte oder Kassette, statt die Musik nur vom Radio aufnehmen zu können.

1992 schließt Sandro nach der 10. Klasse die Schule ab. Nachdem sich sein Berufswunsch zerschlagen hat, beginnt er eine Ausbildung zum Dachdecker. Er bleibt in seiner Heimatregion in und um Weißenfels und arbeitet nach der Abschlussprüfung 1995 bei einer Gerüstbaufirma. Zwei Jahre später geht er zum Zivildienst beim Fahrdienst des Deutschen Roten Kreuzes für behinderte Menschen. Diese Erfahrung prägt ihn stark und er findet darin seine eigentliche Berufung: Fortan betreut er geistig und körperlich behinderte Menschen in einem Wohnheim. 2017 lässt er sich berufsbegleitend zum Heilerziehungspfleger ausbilden.

Wenn Sandro heute auf seine eigene DDR-Erfahrung zurückschaut, dann ist das, als ob zwei Wahrheiten nebeneinander stehen: Seine behütete Kindheit und Jugend, in der er lernt, den Sozialismus beschützen zu wollen. Und auf der anderen Seite die Erkenntnisse nach 1989/90 über die marode DDR-Wirtschaft oder Mitarbeiter der Stasi, die auch in seinem persönlichen Umfeld lebten. Er fragt sich, ob auch er mit ihnen in Konflikt geraten wäre.

Sandro hat zwei Söhne und arbeitet heute in Weißenfels und lebt in Halle.

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