Kategorie: Zeitzeugen

Robert, geboren 1976
in Ostberlin

„Auf die Transformationsleistung können die Menschen mit DDR-Hintergrund zurecht stolz sein, ohne dabei die Vergangenheit zu verklären.“

Kurzbiografie

Robert wird 1976 in Ostberlin geboren. Er ist das erste von zwei Kindern. Die Eltern sind Diplomaten des Auswärtigen Dienstes der DDR – erst in Vietnam und mit Robert für zweieinhalb Jahre in Moskau. Dort geht er in den Kindergarten der Botschaft. Zurück in der DDR wohnt die Familie zunächst in Ostberlin und zieht dann in eine neue Plattenbausiedlung in Oranienburg. Seine Kindheit erlebt Robert mit den Kindern anderer Familien im Wohngebiet. Dort wird noch viel gebaut und auf den Baustellen gibt es immer genug Spielmöglichkeiten. Für Robert ist Oranienburg einfach ein schöner Ort. Die Stadt ist aber auch ein Schwerpunkt der Stahl- und Pharmaindustrie in der DDR. Dass das Folgen für die Umwelt hat, wird ihm erst viel später durch Erzählungen von Freund:innen oder seiner Mutter bewusst, wenn sie sich beispielsweise an den aggressiven Geruch in der Stadt erinnern.

1983 kommt Robert in die Schule. Er geht da gern hin, denn die meisten Fächer fallen ihm leicht. Seine Lehrer:innen sind jung und deswegen nicht so streng. Sie vermitteln den Schüler:innen viel Wissen und lassen die politische Indoktrination, die der Staat eigentlich von ihnen fordert, eher weg. Allerdings kommen die rein politischen Fächer auch erst in der 7. Klasse. In seiner Schulklasse gibt es einen so genannten Gruppenrat, in dem Robert verschiedene Funktionen übernimmt – unter anderem als Agitator, Kassenwart und Redakteur für die Wandzeitung. Nach dem Unterricht verbringt er die Nachmittage mit seinen Freunden beim Fußball oder Tischtennis. Seit der ersten Klasse spielt er zudem im Handballverein und als Jugendlicher wird er dort Schiedsrichter. Meist kommt Robert erst zum Abendessen wieder nach Hause. Die Eltern arbeiten Vollzeit und so lernt er früh, selbständig zu sein.

Mutter und Vater sind beide Mitglieder in der SED. Sie glauben an den Sozialismus, ebenso wie ihre Freunde, von denen einige aus der Sowjetunion kommen. Bei konkreten Themen kritisiert vor allem die Mutter schon mal Entscheidungen der SED-Führung. Grundsätzlich aber stellen die Eltern das Ein-Parteien-System nicht in Frage, sondern wünschen sich Veränderungen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung. So verteidigen sie beispielsweise auch die Mauer und finden, dass, wer bei der Flucht scheitert, ja um die Gefahr habe wissen können.

Im Schuljahr 1989/90 kommt Robert in die 7. Klasse. Das Fach Staatsbürgerkunde ist nun neu. Anfangs wird da noch im Sinne der kommunistischen Weltanschauung unterrichtet. Aber die Schüler:innen wollen bald mehr zu den aktuellen Ereignissen im Land wissen, von denen sie im Westfernsehen erfahren. Auch immer mehr Lehrer:innen äußern sich distanziert zur DDR – vor allem die jüngeren.

Am Abend des 9. November schaut Robert mit seiner Mutter Fernsehen, während der Vater in der Küche Musik hört hat. Bei der Pressekonferenz mit Gunther Schabowski versteht Robert die Tragweite der verkündeten Neuigkeit zum Reisegesetz zunächst nicht – seine Mutter hingegen sofort. Als dann im Westfernsehen die Bilder von den Menschen auf der Mauer gezeigt werden, weint der Vater. Am nächsten Tag, ein Freitag, ist Robert fast der Einzige, der zur Schule kommt. Viele Mitschüler:innen besuchen mit ihren Familien schon Westberlin. Roberts Familie hingegen fährt erst Wochen später. Die Welt, die er dort sieht, ist so ganz anders, als was er von der DDR kennt. Beim Einkaufsbummel durch die vollen Kaufhäuser Westberlins bekommt Robert einen Doppelkassettenrekorder vom Begrüßungsgeld. Seitdem die Grenzen gen Westen offen sind, kann nun auch die ganze Familie den Opa besuchen, der 1989 in den Westen nach Baden-Württemberg gezogen ist. Bislang haben nur Roberts Mutter und Schwester einmal eine Reiseerlaubnis zu seinem 75. Geburtstags bekommen.

Für Robert und seine Familie geht das Leben in den nächsten Monaten ganz normal weiter: Die Eltern behalten ihre Anstellungen, in der Schule bleiben die meisten Lehrer:innen und auch sein Sportverein besteht weiter. Dabei verändert sich im Land im Grunde gerade alles. Dem Beitritt der DDR zur BRD stehen die Eltern zurückhaltend und kritisch gegenüber, sie lehnen ihn aber nicht grundsätzlich ab. Und sie nutzen die neuen, materiellen Möglichkeiten: ein Westauto, bessere Kleidung, Technik, aber auch Reisen ins westliche und ins osteuropäische Ausland.

Als Jugendlicher beginnt Robert, sich für Politik und gesellschaftliche Debatten zu interessieren, ohne sich aber aktiv zu engagieren. In seinem Freundeskreis gibt es auch einige, die völkisch-nationalistisch denken und handeln. Im Laufe der Jahre scheinen diese Einstellungen dann nachzulassen, aber sie sind nie wirklich weg und treten heute wieder deutlich zu Tage. Robert zieht andere Schlüsse: Er genießt ein selbständiges, freiheitlichen Leben, das wohl kaum mit den einengenden Bedingungen der DDR vereinbar gewesen wäre.

Den hohen Stellenwert von Bildung nimmt Robert als bewahrenswerte DDR-Erfahrung auf seinen weiteren Lebensweg mit. Nach dem Abitur 1996 macht er den Grundwehrdienst bei der Bundeswehr und geht anschließend zum Jurastudium an die Humboldt-Universität in Berlin. Es folgen ein Referendariat in Neuruppin und bis 2007 ein Master der Rechtswissenschaft in Norwich, Ostengland.

Seither arbeitet Robert als Bundesbeamter in Bonn, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern lebt.

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    Clemens, geboren 1979
    in Dresden

    „Die Veränderungen nach 1989/90 und die tiefe Verunsicherung meiner Eltern rissen mich aus meinen Lebensträumen.“

    Kurzbiografie

    Clemens wird 1979 in Dresden geboren. Er wächst in einem kirchlichen Umfeld auf: Seine Eltern sind in der Studentengemeinde an der TU Dresden aktiv. Ihre Freizeit verbringen sie mit Freunden aus der Gemeinde, von denen viele ebenfalls Kinder haben. Die Kinder werden Clemens‘ Freunde, wenn die Eltern abends ausgehen, übernachtet er mal bei ihnen, mal sie bei ihm. Viele Nachmittage verbringt er in den Hinterhöfen in seinem Viertel, wo er seine Freunde trifft. Manchmal steigen sie in ein altes, verfallenes Haus aus der Gründerzeit ein, wie es zu der Zeit viele in Dresden gibt.

    Zu den prägendsten Erlebnissen seiner Kindheit gehören für Clemens die Rüstzeiten der Kirchengemeinde. Da gibt es gemeinsame Andachten und Gottesdienste, aber auch viele gemeinsame Begegnungen und Ausflüge. Zu diesen Sommerlagern fahren auch Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen mit. Von ihnen lernt er, was es beispielsweise heißt, nicht laufen oder sehen zu können. Nach 1990 enden die Rüstzeiten auf einmal. Für Clemens ist das ein erster Hinweis auf die Risse, die sich bald im bisher gewohnten kirchlichen Umfeld zeigen.

    Im September 1986 kommt Clemens in die Schule. Er ist fast 7 Jahre alt. Er findet schnell Anschluss, doch schon im Winter muss er für zwei Jahre auf eine andere Schule wechseln. Er hat Epilepsie und die Nebenwirkungen der Medikamente schränken ihn ein. Er muss einige Zeit auf eine Sonderschule wechseln. Im Sommer 1989 kommt er an seine alte Schule zurück und versucht, im alten neuen Umfeld wieder Anschluss zu finden. Er schließt neue Freundschaften, nachmittags verabreden sie sich manchmal, um beispielsweise die Serie Knight Rider zu gucken, die im Westfernsehen läuft.

    Wenige Wochen später, im Herbst 1989, kommen einige seiner Freunde auf einmal nicht mehr zur Schule. Und seine Eltern erlebt Clemens schon seit dem Frühjahr besonders aktiv in der kirchlichen Opposition: Anfang Mai 1989 sind in der ganzen DDR Kommunalwahlen. Die Eltern koordinieren gemeinsam mit anderen Bürgerrechtler:innen, wie sie die Auszählung der Wahlergebnisse in Dresden kontrollieren und Wahlfälschungen belegen können – mit Erfolg. Im Herbst gehen sie dann oft auf Demonstrationen, denn sie wünschen sich Reformen im Sozialismus. Clemens darf erst mit, als die Demonstrationen vor dem Eingriff von Polizei oder Stasi sicher scheinen. Dort erlebt er die Menschen mit Kerzen in den Händen als eine feierliche Menge. Den Mauerfall kennt er dann nur als Ereignis aus dem Fernsehen.

    Die Veränderungen für die Familie und den unmittelbaren Freundeskreis lassen keine Freudenstimmung aufkommen. Es beginnt eine Phase der Verunsicherung für ihn und seine Freunde, als auch für seine Eltern und Lehrer:innen. Der familiäre Freundeskreis zerbricht nach der Wende in „Gewinner“ und Verlierer“ des Umbruchs. Plötzlich haben die einen ein neues Auto, während die anderen ohne Mietvertrag dastehen. Clemens‘ Vater verliert 1991 seine Stelle als Ingenieur für Messtechnik, es folgen viele Umschulungen und nur kurzfristige Anstellungen. Die Mutter wird als Programmiererin beim ehemaligen Kombinat Robotron vom neuen Eigentümer übernommen und wechselt bald zu SAP. Dafür muss sie jedoch in Heidelberg arbeiten. Anfangs pendelt sie. Im Frühjahr 1992 zieht die Familie nach Heidelberg, doch mit ihren Erfahrungen und Hoffnungen finden sie keinen Anschluss. Die Lebensweise dort erleben sie als kulturellen Schock: Die gesellschaftlichen Umwälzungen in Dresden erscheinen in Heidelberg weit weg und sind kaum spürbar. Clemens fühlt sich fremd und ausgeschlossen. Noch in Dresden war er mit Beginn der 6. Klasse im Herbst 1991 aufs Gymnasium gekommen – nun, kurz darauf, wieder ein Schulwechsel und ein ganz neues Umfeld. Bald fährt die Familie an den Wochenenden immer häufiger nach Dresden. Schließlich ziehen sie 1994 zurück nach Dresden – entgegen aller finanziellen Vernunft. Zurück in ihr soziales Netzwerk, aber auch zurück in den beruflichen Existenzkampf der Eltern.

    Clemens hingegen kann mit der Rückkehr an sein Gymnasium und in die kirchlichen Kreise wieder Stabilität erlangen. Das gibt ihm Sicherheit, sich künstlerisch auszuleben. Er entdeckt insbesondere das Theater für sich. Zudem beginnt er, sich als Jugendlicher die Welt auf Reisen nach Italien, Nordeuropa, Schottland oder Irland zu erschließen. 1998 macht er Abitur. Danach leistet er ein Jahr Zivildienst in einem Altenheim und einer Orthopädieklinik. Statt, wie in seinen früheren Berufswünschen, Maler, Architekt oder Schauspieler zu werden, beginnt Clemens 2000 ein Soziologiestudium. Er will die gesellschaftlichen Unsicherheiten nach dem Systemumbruch 1989/90 verstehen lernen.

    In seinem Berufsleben bleibt er Wissenschaftler, forscht in Karlsruhe und Berlin dazu, wie Innovationen entstehen. Mit Anfang 30 beginnt er, sich mit den Umbruchserfahrungen seiner Familie auseinanderzusetzen, Stärke daraus zu ziehen. Die Erfahrung, in zwei unterschiedlichen Systemen aufgewachsen zu sein, schärft sein Bewusstsein dafür, dass Dinge nie nur schwarz und weiß sind. Er lernt, dass es hilft, erst einmal zuzuhören und Menschen nicht schnell zu bewerten. So gelingt es ihm beispielsweise, Gründe zu besser verstehen, warum so viele Menschen die Aufnahme der großen Zahl Geflüchteter in Deutschland seit 2015 so stark ablehnen: Viele konnten ihre Umbruchserfahrung noch nicht bewältigen und vermissen eine Anerkennung für ihre Lebensleistungen in der DDR. Und ihm wird bewusst, dass die Auseinandersetzung mit den Umbruchserfahrungen ein wichtiger Teil seiner Identität und seiner Familiengeschichte ist.

    Heute hat Clemens zwei Söhne und er lebt und arbeitet in Berlin.

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      Christiane, geboren 1980
      in Ostberlin

      „Für meine Eltern wurde ich zur Vermittlerin zwischen beiden Systemen.“

      Kurzbiografie

      Christiane wird 1980 in Ostberlin geboren. Dort wächst sie im Stadtteil Prenzlauer Berg auf, wo sie mit ihren Eltern und einer Halbschwester in einem großen Neubau-Wohngebiet lebt. Sie ist die jüngste unter insgesamt vier Halbgeschwistern. Ihr Vater, Jahrgang 1930, ist für DDR-Verhältnisse bei ihrer Geburt schon sehr alt. Als Junge ist er in der Hitlerjugend und Flakhelfer. Nach dem Zweiten Weltkrieg ändert er seine Weltsicht, als er von den Konzentrationslagern der Nazis erfährt. Er wird Kommunist und SED-Mitglied und verpflichtet sich dem Aufbau des jungen sozialistischen Staates.

      Durch ihre sozialistische Überzeugung haben Christianes Eltern viele Möglichkeiten im SED-Staat. Als erste in ihren Familien können sie studieren. Der Vater wird schließlich Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Im Sinne des Sozialismus erziehen die Eltern auch ihre Kinder. Wenn sie manchmal lang arbeiten, können sie Christiane erst spät aus dem Kindergarten abholen.

      Als Christiane 1987 in die Schule kommt, darf sie den Schulweg allein gehen. Die Schule liegt ganz nah an ihrer Wohnung. Sie ist nun ein „Schlüsselkind“ wie viele andere Kinder auch, mit denen sie sich im Sommer in den Höfen der Siedlung trifft. Wenn sie abends nach Hause kommen soll, ruft die Mutter vom Balkon aus nach ihr.

      Christiane geht gern zur Schule, bekommt gute Noten und freut sich, Jungpionier zu sein. In ihrer Klasse wird sie Gruppenratsvorsitzende, ihre Freundin wird Wandzeitungsredakteurin. Nicht alles, was sie als Kind bei den Montagmorgenapellen, auf Pioniernachmittagen oder in den Liedern über antifaschistische Widerstandskämpfer hört, versteht Christiane. Vieles erscheint ihr sehr abstrakt, aber keiner fragt nach, auch sie nicht. Ihr gefallen die Apelle und die Musik dennoch.

      Im Herbst 1989 ist Christiane neun Jahre alt und geht in die dritte Klasse. Sie bekommt zwar mit, dass das DDR-Fernsehen Berichte über Menschen zeigt, die über Ungarn oder die CSSR nach Österreich und in die BRD ausreisen wollen. Aber was die bedeuten, weiß sie nicht. Ihre Eltern reden nicht darüber. Dann öffnen am 9. November die Grenzübergänge nach Westberlin und Westdeutschland. Christiane sieht rings um sich, wie sich alle freuen. Im Kontrast dazu aber erlebt sie ihre Eltern: ungläubig und abwartend, wie es weiter gehen wird; ob die Grenzen wirklich offen bleiben. Manche Mitschüler kommen am Samstag nach dem Mauerfall nicht zur Schule. Anfang Dezember überredet Christiane ihre Eltern schließlich neugierig zu einem Ausflug nach Westberlin. Dort kommt sie sich vor wie in einem anderen Universum. Ansonsten bleibt in ihrer Familie auch Wochen nach dem Mauerfall scheinbar alles beim Alten. Das liegt am großen Schweigen ihrer Eltern. Sie sprechen nicht über die politischen Ereignisse, nicht über ihre Enttäuschungen, nicht über die unsichere Zukunft oder wie man sich in diesem neuen System zurechtfinden soll. Für das Gefühl der Ohnmacht, weil sich alles so schnell verändert, finden sie für lange Zeit keine Worte.

      1990 kündigt Christianes Vater von einem Tag auf den anderen. Der Berliner Senat würde ihn zwar weiterbeschäftigen. Aber für den „Klassenfeind“ aus dem Westen will er nicht arbeiten. Stattdessen ist er nun Hausmann, kocht Essen und wäscht die Wäsche. Es ist Christianes Mutter, die als Beamtin fortan die Familie gut ernähren kann. Es gibt keine Geldsorgen, die Familie reist im Urlaub durch die ganze Welt. Und für Christiane beginnt 1991 ein neues Leben: Mit guten Noten bewirbt sie sich auf das Französische Gymnasium im Westen Berlins. Nun lernt sie eine Sprache, die niemand in ihrer Familie spricht. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler kommen aus Ländern, von denen sie bisher nie gehört hat. Dass sie in der DDR aufgewachsen ist, interessiert niemanden. Man versteht sich auf Deutsch oder Französisch. Als Teenager Mitte der 1990er-Jahre ist Christiane für ihr Alter sehr eigenständig. Sie trifft ihre Freunde und geht auf die angesagten Partys und Festivals in Berlin. Oft ist Christiane aber auch auf sich allein gestellt: Die Eltern können ihr bei Problemen im neuen Schulsystem nicht helfen und haben mit den Umbrüchen in ihren eigenen Leben zu tun.

      Für das Studium bleibt Christiane in Berlin und geht zum Studienaustausch ein Jahr nach Frankreich. Danach liegen ihre Berufsstationen mal in und mal außerhalb Berlins und sie engagiert sich ehrenamtlich in Projekten europaweit. Erst spät beginnt Christiane, hinter den Vorhang des Schweigens in ihrer Familie zu schauen. Die Folgen des Umbruchs von 1989/90 für ihre Familie und ihre eigene Identität beschäftigen sie. Sie fragt sich, wo sich ihre Erfahrungen des Systemumbruchs, die so viele gemacht haben, im politischen und öffentlichen Diskurs wiederfinden. Christiane wünscht sich, dass die Leistung vieler Ostdeutscher, sich in das neue System nach der Wiedervereinigung hineinzufinden, öffentlich mehr anerkannt wird. Denn sie weiß: Das Versprechen, dass es durch die Wiedervereinigung allen besser gehen würde, hat sich nicht für jeden eingelöst.

      Heute lebt und arbeitet Christiane in Berlin. Sie hat eine Tochter.

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        Henning, geboren 1979
        in Karl-Marx-Stadt

        Foto: @ privat
        „‘Wiedervereinigung‘ stimmt nicht, da sich für den Osten alles, für den Westen nichts verändert hat – darüber muss geredet werden.“

        Kurzbiografie

        Henning wird 1979 in Karl-Marx-Stadt geboren. Drei Jahre später zieht die Familie ins nahgelegene Flöha in ein Neubaugebiet, das gerade entsteht. Die Mutter ist Ärztin, der Vater arbeitet beim Rat der Stadt und kümmert sich um Menschen in sozialer Not, über die offiziell niemand redet. Einst wollte er Geschichts- und Deutschlehrer werden. Doch er musste sein Studium beenden, weil seine Interpretation des Marxismus der staatlichen Lehre widersprach. Seither steht er dem Staat trotzend aber auch resigniert gegenüber – er arrangiert sich.

        Als Kind hat Henning viel Bewegungsfreiheit. Mit den anderen Kindern aus dem Neubaugebiet spielt er auf dem Abenteuerspielplatz oder im Winter auf dem Rodelhang. Manchmal fährt er allein durch die Siedlung oder spielt hinter dem Wohnhaus, wo ihm die Mutter Bonbons vom Balkon runterwirft. Die Eltern wollen, dass Henning sich frei fühlt. Er soll sagen können, was er denkt und ohne Angst vor Regeln und Zwängen aufwachsen. Nur mit Spielzeugpistolen „Erschießen“ spielen darf er nicht. Er soll begreifen, dass seine Eltern die ständige Präsenz von Waffen im DDR-Alltag nicht normal finden.

        1985 wird Henning mit sechs Jahren eingeschult. Unter den 30 Mitschülern in seiner Klasse findet er gute Freunde. Im Unterricht ist ihm schnell langweilig und er zählt die Tage bis zum Wochenende oder den nächsten Ferien. Dabei ist sogar am Sonnabend Unterricht. Die Lehrer sind streng, erwarten von den Kindern Disziplin und dass sie sich an Pionieraktivitäten beteiligen. So übernimmt Henning mal die Wandzeitung, mal wird er Gruppenratsvorsitzender, weil sich sonst niemand dafür meldet. Nach dem Unterricht geht er in den Hort. Die Leiterin findet er toll. Sie warnt Hennings Eltern, dass er in der Schule besser nicht erzählen solle, was zuhause so Kritisches besprochen wird.

        Hennings Mutter darf 1987 und 1988 ihre Schwester in Westdeutschland besuchen. Sie bringt ihm und seiner kleinen Schwester Süßigkeiten mit. Den Gedanken, im Westen zu bleiben, lehnt sie ab. Im Frühjahr 1989 zieht die Familie nach Kyritz, weil die Mutter dort als Neurologin und Psychiaterin in der Poliklinik arbeiten soll. Dafür wird der Familie ein Haus zum Wohnen angeboten. Traurig lässt Henning seine Freunde zurück. Im September 1989 kommt er auf einer neuen Schule in die fünfte Klasse. Dort hänseln ihn die anderen Kinder, weil er Sächsisch spricht.

        Zur gleichen Zeit scheint in der DDR etwas anders zu laufen als gewohnt. Henning merkt, dass seine Eltern mehr als sonst über die politischen Verhältnisse diskutieren. Und das Westfernsehen zeigt Berichte über Menschen in der DDR, die für Veränderungen im Land demonstrieren, aber auch über DDR-Bürger, die die westdeutsche Botschaft in Prag besetzen und um Ausreise in die BRD bitten. Dann öffnen in der Nacht des 9. November unerwartet die Grenzübergänge nach Westen und die Fernsehbilder zeigen zehntausende Ostdeutsche, die „rübergehen“ oder in den nächsten Wochen und Monaten weiter demonstrieren. In Hennings Familie fragt man sich, wieso plötzlich der Aufruf „Wir sind ein Volk“ zu hören ist und ob nicht auf einmal alles viel zu schnell geht. Wenige Tage nach dem Mauerfall fährt Hennings Familie das erste Mal nach Westberlin, wo Busse die Besucher aus der DDR direkt zu Kaufhäusern fahren. Vom Begrüßungsgeld bekommt Henning ein weißes UKW-Radio.

        Mit der siebten Klasse wechselt Henning aufs Gymnasium. Erneut muss er gewonnene Freunde zurücklassen. Unter den neuen Mitschülern geht es rauer zu, Henning hält sich abseits. Ein Jahr später hat er mit 14 Jahren Jugendweihe. Statt einer Feier bekommt er eine Reise in die USA geschenkt. Amerika wird für ihn zum Sehnsuchtsort, zumal er gerade weder gern in der Schule ist noch zuhause. Die Eltern haben vor allem mit sich zu tun: Der Vater verliert 1993 seinen Job im Krankenhaus, nachdem das von einem westdeutschen Unternehmen aufgekauft wurde. Die Mutter eröffnet eine eigene Praxis und verdient fortan das Geld für die Familie allein. Dem neuen politischen System stehen die Eltern ebenso skeptisch gegenüber wie zuvor der DDR. In der Schule sind die Lehrer unsicher darüber, wie sie die Positionen des neuen Systems vermitteln sollen. Sie geben ihre Unsicherheit durch Leistungsdruck an die Schüler weiter. Nach der zehnten Klasse geht Henning als Austauschschüler in die USA. In seiner Gastfamilie eckt er als zu liberal und selbständig erzogen an. Zurück in Deutschland will er zum Abitur lieber auf ein Internat in Thüringen als auf das verhasste Kyritzer Gymnasium. Dort schließt er tiefe Freundschaften mit Mitschülern aus Westdeutschland und lernt deren ganz andere Lebenshintergründe zu verstehen. Während des Wehrdienstes kehrt er noch einmal nach Kyritz zurück. 1998 beginnt Henning sein Studium in Weimar, das er für Aufenthalte in Schweden und Brasilien unterbricht. Nach dem Studium will er bewusst in Ostdeutschland bleiben und zieht nach Leipzig.

        Das heutige offizielle Bild von der DDR ist Henning viel zu einseitig und linear erzählt. Er will, dass ostdeutsche Sichtweisen ernstgenommen werden. Dass erzählt wird, dass Menschen 1989 den Sozialismus zum Positiven verändern wollten; warum die Anpassung an das westliche Lebensmodell nicht jedem möglich war oder warum sich radikalisierende rechte Jugendliche nach 1989 das Recht der Meinungsfreiheit ohne Konsequenzen missbrauchen konnten.

        Heute lebt und arbeitet Henning in Berlin.

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          Florian, geboren 1979
          in Magdeburg

          „Auch wenn es nach Klischee klingt, bin ich froh, meine Primärsozialisierung in der DDR verbracht zu haben.“

          Kurzbiografie

          Florian wird 1979 in Magdeburg geboren. Die Familie wohnt am Stadtrand in einem großen Neubaugebiet. Florian wächst in einem politisch sehr kritischen Elternhaus auf. Der Vater war als Jugendlicher zwei Jahre im Jugendstrafvollzug, nachdem er versucht hatte, aus der DDR zu fliehen. Nach der Entlassung suchte er Kontakt zu Literatur- und Oppositionskreisen. Als Florian acht Jahre alt ist, erzählt ihm sein Vater von seiner Haft. Inzwischen ist er Leiter in einem Heim der Diakonie für behinderte Menschen. Viele, die dort arbeiten, passen sonst nicht ins DDR-System. Florians Mutter ist Unterstufenlehrerin. Auch sie äußert ihren Unmut über die Lebensverhältnisse in der DDR. So bekommt Florian schon früh die zahlreichen Widersprüche zwischen offizieller Propaganda und Lebenswirklichkeit in der DDR mit. Zu den Eltern der Mutter hat Florian eine enge Beziehung, besonders zum Großvater. Der ist überzeugtes SED-Mitglied, hat in Moskau studiert und unterrichtet Staatsbürgerkunde und Russisch. Er ist aktiver Reservist für die NVA. Florian fühlt sich durch beide Perspektiven auf die DDR gleich stark geprägt.

          Er erlebt eine harmonische und sehr freie Kindheit. 1986 kommt er in die Schule. Der Unterricht fällt ihm leicht. In der Pioniergruppe seiner Klasse übernimmt Florian Funktionen im Gruppenrat. Nach der Schule und an den Wochenenden ist er mit seinen Freunden aus seinem Wohngebiet zusammen. Sie kommen aus Familien mit ganz unterschiedlichem sozialen Hintergrund: Kinder von Arbeiter*innen, Professor*innen, Ärzt*innen, Bausoldaten, Verkäufer*innen usw. Die Kinder spielen im Wäldchen neben dem Neubaugebiet. Im einem benachbarten Wohnblock wohnen sowjetische Soldaten, die in der DDR stationiert sind. Mit deren Kindern spielen Florian und seine Freunde Tischtennis oder Fußball, manchmal kommt es aber auch zu Raufereien.

          Die politischen Veränderungen in der DDR seit dem Sommer 1989 bekommt Florian bewusst mit. Er kommt gerade in die 5. Klasse und wird Thälmannpionier. Zuhause drehen sich die Gespräche um die politische Lage, die Eltern streiten mit den Großeltern. Die Eltern wollen sich an den Montagsdemonstrationen beteiligen, haben Hoffnung, dass sich die Forderungen der Opposition nach einer Demokratisierung der DDR erfüllen würden. Als bereits wenige Wochen nach dem Mauerfall die Weichen zur Wiedervereinigung gestellt werden, sind sie enttäuscht. Sie wollen den Sozialismus eher durch Reformen verbessern.  

          Nur wenige Tage nach dem 9. November 1989 besucht Florians Familie das erste Mal Verwandte in der Bundesrepublik in Wolfsburg. Sie werden von unbekannten Menschen mit Bananen und Milka-Schokolade beschenkt. Im ersten Spielzeugladen in der Bunderepublik werden Florians Erwartungen dann aber enttäuscht, denn das Angebot an Asterix-Heften und Lego kennt er längst aus den vielen Westpaketen an seine Familie.

          Bereits im Sommer nach der Wiedervereinigung Deutschlands zieht Florians Familie nach Rheinland-Pfalz. Der Vater hat eine neue Arbeitsstelle in der Westpfalz. Die Mutter jedoch kann dort nicht weiter als Lehrerin arbeiten, weil ihr DDR-Studienabschluss nicht anerkannt wird. Das ist für sie ein herber Schlag. Auch Florian fallen die ersten zwei Jahre in der neuen Umgebung schwer. Mit dem Wegzug verliert er seinen bisherigen Freundeskreis. Er ist zwölf Jahre alt, ein Teenager, und weiß nicht, wie das Leben nun im Westen verlaufen soll. Er reagiert mit Abgrenzung und weigert sich, den neuen Dialekt zu sprechen oder die neuen Lebensverhältnisse  zu mögen. Vor allem aber definiert er sich in diesen ersten Jahren über seine DDR-Herkunft. Ab seinem 14. Lebensjahr engagiert sich Florian politisch, was für die anderen westpfälzer Jugendlichen in seinem Umfeld eher untypisch ist.  

          Nach dem Abitur 1999 geht er zum Zivildienst auf eine palliative Krebsstation nach Tübingen. Anschließend beginnt Florian dort ein Politikwissenschaftsstudium. Er interessiert sich vor allem für Lateinamerika, bereist in den Semesterferien Mittel- und Südamerika. 2004 studiert er ein Jahr in Santiago de Chile und schließt dort ein halbjähriges Praktikum bei der Vertretung der Europäischen Kommission an. Nach dem Studienabschluss 2007 geht Florian in die Entwicklungspolitik und bleibt seinem thematischen Schwerpunkt treu. 2012 gründet er zusammen mit einigen Freunden Amerika 21, eine Nachrichtenagentur zu Lateinamerika.

          Für Florian hat sein Lebensweg viel mit den Prägungen aus seiner Kindheit in der DDR zu tun, in der Geld und Status wenig bedeuteten und in der er Hilfsbereitschaft in seinem sozial ganz bunten Wohn- und Schulumfeld kennengelernt hat. Und seine Neugier auf Lateinamerika führt er auch ein bisschen auf die Solidaritätsaktionen für Nicaragua in seiner Kindergarten- und Schulzeit zurück.

           Florian lebt und arbeitet heute in Berlin.

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            Kontakt mit Florian aufnehmen

            Bitte beachten Sie, dass Ihre Nachricht aus Gründen der Qualitätssicherung sowohl bei dem/der Zeitzeug*in als auch beim Redaktionsteam des Zeitenwende-Lernportals eingeht. Eine Eingangsbestätigung erhalten Sie automatisch an Ihre E-Mail-Adresse.

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            Nadja, geboren 1981
            in Gera

            „Das Ende der DDR und die Transformationszeit war für die Menschen so existenziell. Es hat uns als Gemeinschaft verbunden, fernab von Status.“

            Kurzbiografie

            Nadja wird 1981 in Gera geboren. Sie wächst in einem großen Neubaugebiet auf, in dem Menschen aus allen Berufsgruppen und Schichten wohnen. Mit den anderen Kindern erlebt Nadja dort eine wilde und freie Kindheit. Abends hängt ein Wischtuch im Fenster, wenn sie nach Hause kommen soll.

            Nadjas Mutter ist diplomierte Grafikerin und arbeitet freiberuflich in einem Atelier neben der Wohnung. Dort hat auch der Vater eine Dunkelkammer zur Entwicklung von Fotos. Er ist Betriebsfotograf beim Bergbauunternehmen Wismut. Durch ihre Arbeit behaupten sich die Eltern immer auch in ihrer Individualität und Unabhängigkeit in der DDR. Das künstlerische Umfeld der Eltern prägt Nadja von Beginn an: Sie probiert sich im Atelier aus, regelmäßig sind befreundete Künstler*innen zu Gast, die Wohnungstür steht jedem offen. Dort wird Politik hinterfragt, analysiert und diskutiert.

            1987 kommt Nadja in die Schule. Der Unterricht fällt ihr leicht. Auf Fahnenapellen und Pioniernachmittagen lernt sie als Pionierin die sozialistische Erziehung in der DDR kennen. Als gute Schülerin soll Nadja in der Freizeit Aufgaben übernehmen. Das sind für sie eher öde Routinen. Schnell begreift sie, dass ihre Familie ein gänzlich anderes Leben führt, als das, was sie in ihrem Umfeld wahrnimmt oder ihr in der Schule beigebracht wird. Darauf ist sie stolz. In den ersten Schuljahren lernt Nadja auch, wie wichtig Hilfsbereitschaft und Solidarität mit Schwächeren sind.

            Im Sommer 1989 fährt die Familie nach Ungarn in den Urlaub. Dort waren im August hunderte DDR-Bürger über die Grenze zu Österreich in den Westen geflohen. Zuhause befürchtet Nadjas Oma, dass ihre Familie den Urlaub ebenso zur Flucht nutzen will. Aber sie kommen zurück nach Gera. Doch das Interesse an den politischen Veränderungen ist groß, der Fernseher läuft permanent, egal ob Aktuelle Kamera oder Tagesschau. In Nadjas Schulklasse fehlen irgendwann Mitschüler. Es wird gemunkelt, sie seien „rübergegangen“. In der Schule spricht niemand darüber. Bald finden die Montagsdemonstrationen in vielen Städten statt, auch in Gera. Nadja darf ihre Eltern dahin begleiten. Als am 9. November 1989 die DDR-Regierung neue Reiseregelungen verkündet, ist Nadjas Familie sofort klar, dass damit die Grenzen offen sind. Die Bilder der kommenden Tage brennen sich in Nadjas Gedächtnis ein: tausende Menschen an und auf der Mauer in Berlin oder in ihren Autos gen Westen fahrend, Tränen und Jubel. Nadjas Familie fährt im Dezember erst vergleichsweise spät in die Bundesrepublik. Der Wohlstand ihrer Verwandten in Passau ist wie ein Schock für sie.

            Nadjas Heimatstadt Gera verändert sich nach dem Mauerfall sehr. Industriebetriebe schließen, viele Menschen verlieren ihre Arbeit, die sozialen Unterschiede nehmen schnell zu. Familien von Freunden brechen auseinander, Angst ist zu spüren, Stasi-Vorwürfe gegen Freunde oder Nachbarn kursieren, Schüler hegen Misstrauen gegen ihre Lehrer. Viele Mitschüler schaffen es nach der vierten Klasse nicht aufs Gymnasium. Nadja hingegen schon. Dafür wird sie nun von ihnen ausgegrenzt. Nadjas Eltern haben in den ersten Jahren nach dem Systemwechsel wenig Zeit. Mit viel Geschick lernen sie die Möglichkeiten des Grafikdesigns am Computer. So schließen sie bis Mitte der 1990er-Jahre beruflich auf den westlichen Standard auf. Dafür erfahren sie auch Missgunst und Neid in ihrem bisherigen Wohnumfeld. 1995 zieht die Familie in die Innenstadt von Gera.

            Für Nadja wird es ein schwieriger Neuanfang. Sie wird an der neuen Schule nicht freundlich aufgenommen. Sie sucht sich Freunde außerhalb der Klasse, bereist in den Ferien viele Länder und entdeckt als 14-/15-Jährige die freie Kulturszene der Stadt, tanzt Nächte in illegalen Clubs durch. Dass sie minderjährig ist, interessiert zu der Zeit niemanden.

            Nach dem Abitur will Nadja möglichst schnell weg aus Gera. Sie will Künstlerin werden, frei sein, nicht ins System passen müssen. Sie geht 1999 zum Kunststudium an die HfBK Dresden, wird 2004 Meisterschülerin. Durch Stipendien lebt sie zeitweilig in Moskau und Wien.

            In zwei Systemen aufgewachsen zu sein, hat für Nadja zur Folge, dass sie sich im jetzigen nicht richtig heimisch fühlt. Sie empfindet vielmehr eine Distanz gegenüber Ideologien und Dogmen und möchte sich eine kritische Haltung bewahren. Denn sie hat erlebt, dass morgen Wertungen überholt sein können. Wichtig sind ihr die Erinnerungen an eine weniger klassengeprägte Gesellschaft in der DDR, in der sie Frauen gleichberechtigt sah. In der Transformationszeit lernt sie: Auf die Straße gehen, statt passiv zu bleiben, das ist politisch. Bis heute geht sie auf Demonstrationen. Und sie zieht aus dem Systemumbruch die Erfahrung, keine Angst vor Veränderungen zu haben und neue Dinge anzunehmen.

            Seit 2007 lebt Nadja in Berlin und arbeitet als freischaffende Künstlerin.

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              Katharina, geboren 1982
              in Waren (Müritz)

              „Die Wende ist der historische Glücksfall für mich. Mein Leben wäre sonst komplett anders verlaufen.“

              Kurzbiografie

              Katharina wird 1982 in Waren (Müritz) geboren. Sie wächst als jüngste von vier Geschwistern auf. Der Vater ist Diakon, die Mutter arbeitet in einem Kindergarten. Der Glaube prägt die Familie und ihre Lebensbedingungen in der DDR. Katharina wird katholisch getauft, geht schon früh in den Religionsunterricht und nimmt im Sommer am Jugendfreizeitlager der Katholischen Kirche – der Religiösen Kinderwoche – teil. Dort hören die Kinder nicht nur Bibelgeschichten, sondern können auch einfach spielen und baden gehen. Die Verbindung, die in den Sommerwochen unter den katholischen Kindern entsteht, trägt über die Ferien hinaus.

              Mehrere ihrer Verwandten wohnen in Westdeutschland. Dort dürfen entweder nur die Mutter oder der Vater zu Besuch hinfahren. Katharina und ihren Geschwistern wird die Ausreise nicht genehmigt. Pakete aus dem Westen sind eine große Unterstützung für die Familie. Stets sind auch Bücher und Kleidungsstücke für die Kinder dabei. Die Freude über einen Pullover oder ein Lieblingsbuch daraus aber kann Katharina nicht im Kindergarten teilen: Dort verbietet man ihr solche westlichen Dinge und ermahnt sie, damit nicht weiter zu prahlen. Auch aus dieser Erfahrung lernt sie, dass es in der DDR ein privates Leben zuhause gibt und ein Leben außerhalb, wo man beispielsweise nichts von den Verwandten, ihren Paketen oder vom Westfernsehen erzählt.

              Im September 1989 kommt Katharina in die Schule. Dort setzt sich die Erfahrung fort, dass ihr Leben anders ist, als das der anderen Kinder in ihrer Klasse. Sie verheimlicht, dass sie montags in den Religionsunterricht geht. Fragen nach dem Beruf ihres Vaters versucht sie auszuweichen. Kurz nach ihrer Einschulung aber ist im Land etwas im Gange. Der Vater nimmt Katharina mit auf die Montagsdemonstrationen in Waren. Und er erklärt ihr, dass die Mauer inzwischen ein Loch habe. Wenn sie fiele, würde es die DDR nicht mehr geben. Das malt Katharina auf und ihre Mutter schreibt unter das Bild mit der Mauer und dem Loch das Datum 8. November 1989.

              Dass einen Tag später die Grenzen der DDR geöffnet werden, bekommt Katharina dann aber gar nicht bewusst mit. Erst durch die Fernsehbilder von Menschen, die in Berlin auf die Mauer klettern oder von Trabbis und Wartburgs, die in Schlange durch eine Menge jubelnder Menschen fahren, begreift sie es. Ihr ältester Bruder fährt mit Freunden nach Berlin und bringt stolz herausgeklopfte Stücke aus der Mauer mit nach Hause. Eine Zeit lang gibt es nun selbst für den Schulalltag keinen Plan. Ob samstags noch Schule ist, erfährt Katharina immer erst durch Mundpropaganda.

              Nach dem Ende der DDR verbessern sich die Lebensbedingungen für Katharinas Familie. Es wird eine Zeit des Wiedersehens mit den Verwandten im Westen und mit vielen Reisen. Vor allem aber ist die Zeit vorbei, in der der SED-Staat Katharinas Eltern und Großeltern aufgrund ihrer Glaubenspraxis unter Druck setzen, ausgrenzen oder überwachen kann. Noch zu DDR-Zeiten hatte der Vater bemerkt, dass in Abwesenheit der Familie mehrfach Fremde in der Wohnung gewesen waren. Nun erfahren die Eltern auch von der damaligen Spitzeltätigkeit mehrerer Nachbarn für das MfS gegen den Vater. Er äußert darüber niemals Groll, höchstens Enttäuschung. Und er gibt zu bedenken, dass man niemals wissen könne, unter welchen Umständen jemand zum Stasi-Spitzel geworden sei.

              1993 kommt Katharina im Alter von elf Jahren aufs Gymnasium. Bald schon ist sie eine Jugendliche, die die Freiheiten der neuen Zeit sieht und nutzen will. Sie träumt von der Großstadt und vom Ausland und wird sich bewusst, dass sie dafür ihr vertrautes Zuhause verlassen muss. Bereits in den Sommerferien nach der 11. Klasse arbeitet sie sechs Wochen in Norwegen. Nach dem Abitur 2002 geht sie für einen Sprachkurs nach England. Anschließend studiert Katharina Journalistik und Anglistik in Leipzig und absolviert begleitend Praktika bei Zeitungen, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Nachrichtenagenturen.

              2009 schließt Katharina ihr Studium ab. Sie arbeitet als Nachrichtenredakteurin unter anderem beim SWR in Baden-Baden und erlangt ein Journalismus-Stipendium in den Niederlanden.

              Mit dem Umzug nach Berlin 2017 ist sie wieder näher an ihrer Heimat und damit an der Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Familie. Das Wissen, welch schweren Weg ihre Eltern und ihre Großeltern wegen ihres Glaubens in der DDR gehen mussten, prägt sie bis heute. Und sie weiß auch, dass ihre Eltern gleichzeitig versucht haben, ihre Kinder vor den Repressalien des SED-Staates zu beschützen, um ihnen eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Daraus zieht Katharina heute ihre Verantwortung für ihr eigenes Kind. Aber auch ihre Motivation, als Zeitzeugin mit anderen ins Gespräch darüber zu kommen, wie Lebenswege verlaufen können, wenn der Staat versucht, sie nach seinem Willen zu formen. Ganz klar schätzt Katharina die persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheiten, die ihrem Leben mit der Wiedervereinigung geschenkt wurden.

              Katharina lebt und arbeitet heute in Berlin.

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                Sandro, geboren 1975
                in Halle (Saale)

                „Mit dem Mauerfall wurde mein Traum, Berufssoldat der NVA zu werden, zerstört – der ‘böse Kapitalist’ im Westen war nicht mehr unser Feind, sondern ist zu einem Freund geworden“

                Kurzbiografie

                Sandro wird 1975 in Halle (Saale) geboren und wächst in einem kleinen Ort bei Weißenfels auf. Als Kind spielt er meist mit seinen Freunden draußen in der Natur. Das ist für sie ein großes Abenteuer, manchmal übernachten sie allein im Zelt. In seiner Kindheit auf dem Dorf fühlt er sich behütet und beschützt. Er übernimmt immer wieder Aufgaben im Haushalt und lernt früh, auch älteren Menschen im Haus zu helfen. Mit vier Jahren lernt er Fahrrad fahren und radelt fortan allein in den Kindergarten.

                1982 kommt Sandro in die Schule. Er ist ein durchschnittlich guter Schüler. Viel wichtiger sind ihm aber die gemeinsamen Nachmittage mit seinen Freunden. Schon als Kind lernt er, dass man in der DDR nicht alles kaufen, vieles aber selber bauen oder reparieren kann. Als 1983 der australische Film Die BMX-Bande auch die Jugendlichen in der DDR begeistert, bauen sich die Freunde ihre BMX-Räder selbst.

                Bereits früh hat Sandro den Wunsch, nach der Schule zur NVA zu gehen und Offizier zu werden. Diesen Traum hält er mit dem Kinderbuch Meine Nationale Volksarmee wach. Er verbindet mit seinem Berufswunsch die Vorstellung, sein Land DDR vor „dem bösen Kapitalisten aus dem Westen“ beschützen zu müssen, so, wie er es im Kindergarten und in der Schule lernt.

                Zu Beginn des 7. Schuljahres – Sandro ist 14 Jahre alt – gibt es in Leipzig die ersten Demonstrationen nach dem Friedensgebet montags in der Nikolaikirche. Sandro sieht die Montagsdemonstrationen im Fernsehen. Viele seiner Freunde fahren sogar nach Leipzig, weil sie schauen wollen, was auf den Demos los ist. Bei Sandro zuhause hingegen läuft alles weiter wie immer. Dass am 9. November 1989 dann sogar die Grenzen geöffnet werden, erfährt er erst am nächsten Tag in der Schule, als er sich darüber wundert, dass nur so wenige Mitschüler da sind. Aufgeregt erzählt er seinen Eltern zuhause vom Mauerfall. Die wissen zwar schon Bescheid, scheinen aber ganz gelassen zu sein. Sandro hat den Eindruck, dass sie sich erst einmal klar werden wollen, was der politische Umbruch nun bedeuten könnte.

                Für Sandro bricht mit der DDR auch seine Vorstellung von der Zukunft zusammen. Auf einmal kann er nicht mehr Offizier der NVA werden. Der einst „böse Feind“ ist nun zu einem Freund geworden, der die DDR-Bürger mit Geld begrüßt und mit ihnen eine gemeinsame Zukunft aufbauen will. Sandro will Gutes bewirken, doch alles, woran er bisher geglaubt hat, ist binnen weniger Monate nicht mehr gültig. Er muss sich neu orientieren.

                Sein persönliches Umfeld bleibt nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands im Großen und Ganzes stabil. Aus dem festen Freundeskreis ziehen nur wenige in den Westen. Aber seine Eltern und Verwandten machen Anfang der 1990er-Jahre die Erfahrung, dass ihre Betriebe schließen, sie ihre Arbeit verlieren und manche ihre bisherigen Berufe nicht mehr ausüben können. Sandro beobachtet, dass sie erst einmal nicht wissen, wie es weitergeht. Sie müssen zum Teil neue Berufe erlernen.

                Er hingegen entdeckt in der neuen Freiheit aber auch neue Möglichkeiten: Er kann sich jetzt beispielsweise die T-Shirts seiner Lieblingsbands kaufen, die er sich vor 1989 noch mühsam selbst bemalt hat. Und auch deren Musik bekommt er nun ganz einfach auf Platte oder Kassette, statt die Musik nur vom Radio aufnehmen zu können.

                1992 schließt Sandro nach der 10. Klasse die Schule ab. Nachdem sich sein Berufswunsch zerschlagen hat, beginnt er eine Ausbildung zum Dachdecker. Er bleibt in seiner Heimatregion in und um Weißenfels und arbeitet nach der Abschlussprüfung 1995 bei einer Gerüstbaufirma. Zwei Jahre später geht er zum Zivildienst beim Fahrdienst des Deutschen Roten Kreuzes für behinderte Menschen. Diese Erfahrung prägt ihn stark und er findet darin seine eigentliche Berufung: Fortan betreut er geistig und körperlich behinderte Menschen in einem Wohnheim. 2017 lässt er sich berufsbegleitend zum Heilerziehungspfleger ausbilden.

                Wenn Sandro heute auf seine eigene DDR-Erfahrung zurückschaut, dann ist das, als ob zwei Wahrheiten nebeneinander stehen: Seine behütete Kindheit und Jugend, in der er lernt, den Sozialismus beschützen zu wollen. Und auf der anderen Seite die Erkenntnisse nach 1989/90 über die marode DDR-Wirtschaft oder Mitarbeiter der Stasi, die auch in seinem persönlichen Umfeld lebten. Er fragt sich, ob auch er mit ihnen in Konflikt geraten wäre.

                Sandro hat zwei Söhne und arbeitet heute in Weißenfels und lebt in Halle.

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                  Marco, geboren 1977
                  in Heidenau

                  „Besser man wahrte (als Schüler) den sozialistischen Schein und behielt seine eigentliche Meinung für sich.“

                  Kurzbiografie

                  Marco wird 1977 in Heidenau bei Dresden geboren. Er wächst mit seinem drei Jahre älteren Bruder auf. Die Eltern arbeiten beide als Ökonomen. Der Mutter ist es wichtig, dass ihre Söhne im Geiste des Humanismus erzogen werden, den sie in der Idee des Sozialismus wiederfindet. Der Vater ist SED-Mitglied und gibt sich linientreu, obwohl er im Privaten schon mal auf den „Scheißstaat“ schimpft.

                  Als Kind in der DDR der frühen 1980er-Jahre bekommt Marco den Mangel mit, der die Lebensverhältnisse der Menschen prägt: langes Schlange stehen am Lebensmittelgeschäft oder am Kiosk für Bananen oder für ein rares Exemplar einer Zeitschrift. Für ihn als Kind gehört all das zum Alltag. Nur cooles Westspielzeug oder Comics hätte er gern gehabt. Reisen in die weite Welt hingegen wünscht er sich damals noch nicht – als Kind hat er eher Ehrfurcht vor dem Ungewissen.

                  1983 kommt Marco in Heidenau in die Schule. Von Anfang an ist er ein guter Schüler. Deshalb wird von ihm erwartet, sich als Mitglied und Vorsitzender des Gruppenrats für die Pionierorganisation einzubringen. Was dort propagiert wird, sind für ihn nur auswendig gelernte, immer gleiche Phrasen, an die er persönlich nicht glaubt. Dennoch erfüllt er die lästigen Pflichten, um seinen Lehrern nicht zu missfallen. Er wünscht sich deren Lob und Anerkennung. Heute fragt er sich, wie er sich als Erwachsener in ähnlichen Situationen verhalten hätte.

                  Im Sommer 1989 ist Marco zwölf Jahre alt und fährt in ein Ferienlager am Werbellinsee. Der Betreuer, der gerade von der NVA kommt, erniedrigt die 10- bis 12-Jährigen mit militärischem Drill. Das verstärkt Marcos Angst vor dem Wehrkundeunterricht ab der 9. Klasse und noch mehr vor einer später anstehenden Verpflichtung zur NVA.

                  Seit dem Sommer 1989 scheint etwas im Umbruch zu sein: In den Sommerferien fliehen DDR-Bürger im Urlaub in Ungarn über Österreich in den Westen, andere besetzen die westdeutsche Botschaft in Prag und dürfen Anfang Oktober mit dem Zug in die BRD ausreisen. Marco kann die Züge von seinem Fenster aus durch Heidenau fahren sehen. Im Staatsbürgerkundeunterricht wird nun nicht mehr die Überlegenheit des Sozialismus propagiert. Seine Mutter und sein Bruder gehen auf die Montagsdemonstrationen.

                  Am 9. November 1989 sieht er im Fernsehen die Pressekonferenz, die zur Öffnung der Grenzen führt. Die Tragweite versteht er aber erst in den nächsten Tagen. Er malt sich aus, dass er bald all das kaufen kann, wofür er sich bisher am Intershop die Nase platt gedrückt hat. Das erste Mal fährt die Familie erst Anfang Dezember nach Westberlin. Vorher findet seine Mutter die neue politische Situation zu unsicher. Für Marco ist es ein aufregender Tag. Er ist von den Lichtern und Läden auf dem Ku‘damm fasziniert, aber abends auch total übersättigt von all den Eindrücken.

                  Für Marcos Eltern ändern sich die beruflichen Rahmenbedingungen nun sehr schnell. Die Mutter kämpft im neu gegründeten Betriebsrat mit der Treuhand für eine Umwandlung des Volkseigenen Betriebes in eine GmbH. Aufgrund von sehr unterschiedlichen Interessen der Beteiligten erfährt sie sowohl großen Unmut vom alten Betriebsleiter als auch von einigen Kollegen. Bald wechselt sie in eine andere Firma, kann Umschulungen nutzen und kommt in der neuen Arbeitswelt gut an. Marcos Vater hingegen unterschätzt die Veränderungen, wird 1994 arbeitslos, was bis zu seiner Frühverrentung weitestgehend so bleibt. Die Frage, ob das Geld reicht, stellt sich nun häufiger.

                  In dieser Umbruchszeit sind die Eltern sehr mit sich beschäftigt. Marco lernt schnell, für vieles selbst Verantwortung zu übernehmen. 1991 kommt er mit der 9. Klasse aufs Gymnasium. Er spürt, wie der Leistungsdruck enorm steigt. Manche Mitschüler schaffen es nicht und wechseln auf die Realschule.

                  Von seinem gesparten Begrüßungsgeld kauft sich Marco den ersten eigenen Computer. Nicht nur die Computerspiele faszinieren ihn, bald entdeckt er das Programmieren für sich. Daraus entsteht sein Wunsch, Informatiker zu werden. Im Herbst 1995 nimmt er ein Studium an der HTW Dresden auf. Er absolviert Praxissemester in Hamburg und Düsseldorf und schreibt 2000 seine Diplomarbeit in Berlin. Nach dem Studium wird Marco Softwareentwickler bei der Robert-Bosch-GmbH in Hildesheim in Niedersachsen, für die er 2009 zeitweilig auch in die USA geht.

                  Seiner alten Heimat fühlt sich Marco weiterhin verbunden. Mit Sorge sieht er dort den starken Zuspruch für rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien. Er wünscht sich, dass viele Menschen nicht so einfache Erklärungsangebote suchen würden. Auch wenn er weiß, dass bei manch einem der Grund in erlebten Demütigungen nach der Wiedervereinigung liegt. Marco selbst kennt dieses Gefühl, wenn Menschen bezüglich seiner Herkunft abfällig reagieren.

                  Marco lebt und arbeitet heute in Hildesheim. In seiner Freizeit fotografiert er und moderiert beim Bürgerradio Sportsendungen.

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                    Sandy, geboren 1981
                    in Gardelegen

                    „Im Westen war ich der doofe Ossi, im Osten war ich der Wessi, der sich für etwas besseres hält.“

                    Kurzbiografie

                    Sandy wird 1981 in Gardelegen in Sachsen-Anhalt geboren. Bis zu ihrem neunten Lebensjahr wächst sie in einem kleinen Dorf in der Nähe auf, wo sie mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder wohnt. Das Dorf ist landwirtschaftlich geprägt, Vater, Opa und Oma arbeiten dort als Melker. Das Dorf erlebt sie als Zuhause und Abenteuerspielplatz.

                    Sandy lebt in dem Gefühl von Geborgenheit, familiärem Zusammenhalt und gegenseitigem Vertrauen. An Essen, Kleidung oder Spielsachen mangelt es ihr nicht; was sie sich wünscht, bringt der Weihnachtsmann oder der Osterhase. Die Großeltern wohnen in Sandys Nähe. Durch den Respekt, den die Menschen im Dorf dem Großvater entgegenbringen, fühlt sie sich beschützt. Das Leben verläuft in ruhigen Bahnen.

                    Über die politischen Verhältnisse in der DDR reden die Eltern wenig und wenn, dann nur zuhause, wie beispielsweise über westdeutsche Fernsehsendungen oder auch, wer im Umfeld als IM für die Stasi spitzelt. Dass im Herbst 1989 – da ist Sandy acht Jahre alt – Menschen in der DDR zu Zehntausenden gegen die SED-Führung demonstrieren, davon bekommen die Kinder zuhause nichts mit. Für Sandy ist 1989 ein ganz normales Jahr: Sie bekommt ein sehr gutes Zeugnis und erhält dafür im Pionierlager vorzeitig das rote Pionierhalstuch, worauf sie stolz ist.

                    Am 4. November 1989 flieht die Familie nach Westdeutschland. Das kommt für Sandy komplett überraschend. Auf einmal lebt sie in einem anderen Ort, in einem anderen Land und muss auf eine Schule gehen, wo alle ganz anders aufgewachsen sind als sie. Sie fühlt sich hilflos, andersartig und gedemütigt, als Lehrer keine Rücksicht darauf nehmen, dass sie manchen Schulstoff noch nicht beherrscht. Ihre Noten sacken ab und auch zuhause erfährt sie dafür kein Verständnis. Erst nach und nach holt sie auf, findet Freunde, lernt, sich anzupassen und schiebt alle ihre Probleme und ihren Schmerz als Teenager auf die Pubertät. Dass die Flucht, über die nie mehr gesprochen wird, in ihr ein Trauma hinterlassen hat, begreift sie erst später.

                    In dieser Zeit fehlt Sandy die familiäre Geborgenheit. Die Eltern haben sehr wenig Zeit, müssen viel arbeiten und sind oft erschöpft – die Familie kommt finanziell nur knapp über die Runden. Sandy wird schnell erwachsen, folgt dem Rat der Eltern, sich anzupassen, nicht aufzufallen und alle Vorurteile, die ihr als „Ossi“ entgegengebracht werden, durch noch mehr Anstrengung auszuräumen. Das Heimweh an früher drückt sie weg, bis sie die Großeltern in der alten Heimat besuchen kann. Aber die inzwischen gefühlte Mauer zwischen ihr und ihren alten Freunden kann sie nicht überwinden. Sie beobachtet, wie sich Jugendliche in ihrer alten Heimat politisch links oder rechts positionieren. Wenn sie deren Haltung hinterfragt, kommt es zum Streit. Gleichzeitig ist sie angezogen von der Freiheit und dem Zusammenhalt der Jugendlichen.

                    Als Kind wollte Sandy Sekretärin oder Kassiererin werden, als Jugendliche soll es Hotelfachfrau sein – eine Berufsausbildung, denn Abitur und Studium können die Eltern finanziell nicht unterstützen. Zur gleichen Zeit will die Familie wieder näher an die alte Heimat ziehen. Sandys Bewerbungsbemühungen scheitern an der unsicheren Wohnortfrage. Durch Zufall bewirbt sie sich bei der Deutschen Bundesbank in Frankfurt am Main und erhält 1997 den Ausbildungsplatz. Auf einmal ist sie wieder mit Vorbehalten gegen Ostdeutsche konfrontiert: Leute lästern in ihrem Beisein über „Ossis“, weil sie Sandy für eine Westdeutsche halten. Wie nach der Flucht aus der DDR sucht sie sich Freunde, die, wie sie, auch fremd im Land sind und verschiedene Nationalitäten haben.

                    Mit Mitte Ende 20 lebt sie in Berlin, das Ost und West in sich vereint, wie sie selbst. Sie lernt, ihre Position zu vertreten, ihre Angepasstheit abzulegen und findet dennoch auch hier keine Heimat. Ihre Suche verschlägt sie mit
                    29 Jahren nach New York, das für sie die Stadt der Immigranten aller Nationalitäten ist, die gut miteinander leben können. Das erste Mal ist sie einfach nur Sandy aus Deutschland. Wenn sie von ihrem Leben in der DDR erzählt, erfährt sie Neugier, keine Ablehnung.

                    Seit Sandy 21 ist, arbeitet sie die Familiengeschichte auf und findet damit einen Weg aus mehr als 10 Jahren Sprachlosigkeit seit der Flucht. Die Familie unterstützt sie, denn sie alle sind bis heute geprägt von der Flucht und den Veränderungen nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung. Sandy will ihre Erfahrungen nutzen, um als Brückenbauerin zwischen den Generationen zu vermitteln und die Gräben zwischen Ost und West zu überwinden. Für sie ist die Wiedervereinigung ein Beweis dafür, dass Menschen aus Fehlern, die einst gesellschaftspolitisch gemacht wurden, lernen können.

                    Sandy lebt heute wieder in Berlin.

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