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Marco, geboren 1977
in Heidenau

„Besser man wahrte (als Schüler) den sozialistischen Schein und behielt seine eigentliche Meinung für sich.“

Kurzbiografie

Marco wird 1977 in Heidenau bei Dresden geboren. Er wächst mit seinem drei Jahre älteren Bruder auf. Die Eltern arbeiten beide als Ökonomen. Der Mutter ist es wichtig, dass ihre Söhne im Geiste des Humanismus erzogen werden, den sie in der Idee des Sozialismus wiederfindet. Der Vater ist SED-Mitglied und gibt sich linientreu, obwohl er im Privaten schon mal auf den „Scheißstaat“ schimpft.

Als Kind in der DDR der frühen 1980er-Jahre bekommt Marco den Mangel mit, der die Lebensverhältnisse der Menschen prägt: langes Schlange stehen am Lebensmittelgeschäft oder am Kiosk für Bananen oder für ein rares Exemplar einer Zeitschrift. Für ihn als Kind gehört all das zum Alltag. Nur cooles Westspielzeug oder Comics hätte er gern gehabt. Reisen in die weite Welt hingegen wünscht er sich damals noch nicht – als Kind hat er eher Ehrfurcht vor dem Ungewissen.

1983 kommt Marco in Heidenau in die Schule. Von Anfang an ist er ein guter Schüler. Deshalb wird von ihm erwartet, sich als Mitglied und Vorsitzender des Gruppenrats für die Pionierorganisation einzubringen. Was dort propagiert wird, sind für ihn nur auswendig gelernte, immer gleiche Phrasen, an die er persönlich nicht glaubt. Dennoch erfüllt er die lästigen Pflichten, um seinen Lehrern nicht zu missfallen. Er wünscht sich deren Lob und Anerkennung. Heute fragt er sich, wie er sich als Erwachsener in ähnlichen Situationen verhalten hätte.

Im Sommer 1989 ist Marco zwölf Jahre alt und fährt in ein Ferienlager am Werbellinsee. Der Betreuer, der gerade von der NVA kommt, erniedrigt die 10- bis 12-Jährigen mit militärischem Drill. Das verstärkt Marcos Angst vor dem Wehrkundeunterricht ab der 9. Klasse und noch mehr vor einer später anstehenden Verpflichtung zur NVA.

Seit dem Sommer 1989 scheint etwas im Umbruch zu sein: In den Sommerferien fliehen DDR-Bürger im Urlaub in Ungarn über Österreich in den Westen, andere besetzen die westdeutsche Botschaft in Prag und dürfen Anfang Oktober mit dem Zug in die BRD ausreisen. Marco kann die Züge von seinem Fenster aus durch Heidenau fahren sehen. Im Staatsbürgerkundeunterricht wird nun nicht mehr die Überlegenheit des Sozialismus propagiert. Seine Mutter und sein Bruder gehen auf die Montagsdemonstrationen.

Am 9. November 1989 sieht er im Fernsehen die Pressekonferenz, die zur Öffnung der Grenzen führt. Die Tragweite versteht er aber erst in den nächsten Tagen. Er malt sich aus, dass er bald all das kaufen kann, wofür er sich bisher am Intershop die Nase platt gedrückt hat. Das erste Mal fährt die Familie erst Anfang Dezember nach Westberlin. Vorher findet seine Mutter die neue politische Situation zu unsicher. Für Marco ist es ein aufregender Tag. Er ist von den Lichtern und Läden auf dem Ku‘damm fasziniert, aber abends auch total übersättigt von all den Eindrücken.

Für Marcos Eltern ändern sich die beruflichen Rahmenbedingungen nun sehr schnell. Die Mutter kämpft im neu gegründeten Betriebsrat mit der Treuhand für eine Umwandlung des Volkseigenen Betriebes in eine GmbH. Aufgrund von sehr unterschiedlichen Interessen der Beteiligten erfährt sie sowohl großen Unmut vom alten Betriebsleiter als auch von einigen Kollegen. Bald wechselt sie in eine andere Firma, kann Umschulungen nutzen und kommt in der neuen Arbeitswelt gut an. Marcos Vater hingegen unterschätzt die Veränderungen, wird 1994 arbeitslos, was bis zu seiner Frühverrentung weitestgehend so bleibt. Die Frage, ob das Geld reicht, stellt sich nun häufiger.

In dieser Umbruchszeit sind die Eltern sehr mit sich beschäftigt. Marco lernt schnell, für vieles selbst Verantwortung zu übernehmen. 1991 kommt er mit der 9. Klasse aufs Gymnasium. Er spürt, wie der Leistungsdruck enorm steigt. Manche Mitschüler schaffen es nicht und wechseln auf die Realschule.

Von seinem gesparten Begrüßungsgeld kauft sich Marco den ersten eigenen Computer. Nicht nur die Computerspiele faszinieren ihn, bald entdeckt er das Programmieren für sich. Daraus entsteht sein Wunsch, Informatiker zu werden. Im Herbst 1995 nimmt er ein Studium an der HTW Dresden auf. Er absolviert Praxissemester in Hamburg und Düsseldorf und schreibt 2000 seine Diplomarbeit in Berlin. Nach dem Studium wird Marco Softwareentwickler bei der Robert-Bosch-GmbH in Hildesheim in Niedersachsen, für die er 2009 zeitweilig auch in die USA geht.

Seiner alten Heimat fühlt sich Marco weiterhin verbunden. Mit Sorge sieht er dort den starken Zuspruch für rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien. Er wünscht sich, dass viele Menschen nicht so einfache Erklärungsangebote suchen würden. Auch wenn er weiß, dass bei manch einem der Grund in erlebten Demütigungen nach der Wiedervereinigung liegt. Marco selbst kennt dieses Gefühl, wenn Menschen bezüglich seiner Herkunft abfällig reagieren.

Marco lebt und arbeitet heute in Hildesheim. In seiner Freizeit fotografiert er und moderiert beim Bürgerradio Sportsendungen.

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