Seminareinheit: Perspektiven, die noch fehlten

Seminareinheit

Perspektiven, die noch fehlten

 

Dauer: 90 min
Technische Voraussetzungen: Internetzugang oder Download der der beiden Videos in Vorbereitung, Beamer & Leinwand oder Tablets/Laptops
Arbeitsmaterialien: Arbeitsblatt: „Perspektiven, die uns noch fehlten“
Einführungstexte: „Die Dritte Generation Ostdeutschland“, „Umbruch in der DDR und Transformation in Ostdeutschland“
Optionale Hintergrundinformationen für den:die Referent:in:

Kurzbeschreibung

Thema

Die Seminareinheit „Perspektiven, die noch fehlten“ erweitert die Themen des Bildungsangebotes „Ich sehe was, das du nicht siehst“ um jene Generationenerfahrungen, die sich nicht unmittelbar oder assoziativ aus privaten Alltagsfotografien der Umbruchszeit ergeben: gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie vor allem Neonazi-Straßengewalt oder Rassismus, sind signifikante Umbruchserfahrungen von Angehörigen der Dritten Generation Ostdeutschland. Diese Seminareinheit stellt diese wichtigen Perspektiven und Erinnerungen an den Umbruch und die Transformationsjahre in den Mittelpunkt.

Didaktische Hinweise

Die Seminareinheit „Perspektiven, die noch fehlten“ eignet sich insbesondere als Abschluss eines Seminartages mit dem Bildungsangebot „Ich sehe was, das du nicht siehst“. Sie setzt Kenntnisse über die Dritte Generation Ostdeutschland voraus, die die Teilnehmer:innen durch das Bildungsangebot im Vorfeld erworben haben (können). Wird die Seminareinheit eigenständig durchgeführt, empfiehlt sich eine Einführung in die Perspektiven der Dritten Generation Ostdeutschland, bspw. anhand des Generationenporträts „Dritte Generation Ostdeutschland, Fotos und Interviews“ von Sven Gatter https://vimeo.com/78325952 oder der ZDF-Kurzdokumentation „Ossi, na und? 30 Jahre und keine Einheit“ https://youtu.be/bAeym4f4oLc.

Lernziele

Die Teilnehmer:innen lernen Perspektiven und Erfahrungen der Dritten Generation Ostdeutschland über die Umbruchs und Transformationszeit in der DDR und Ostdeutschland kennen, die bislang nicht über den Zugang der privaten Alltagsfotografie vermittelt werden konnten.

Ablaufvorschlag

Arbeitsphase 1
  1. Der:Die Referent:in bittet die Teilnehmer:innen, stichpunktartig zusammenzutragen, welche Merkmale die Dritte Generation Ostdeutschland aufweist und von welchen historischen und gesellschaftspolitischen Ereignissen und Entwicklungen sie geprägt wurde.
  2. Der:Die Referent:in sammelt die Ergebnisse auf dem Whiteboard oder auf einem Flipchart.
  3. Der:Die Referent:in bittet die Teilnehmer:innen, zu resümieren, welche Themen dadurch gut ausgeleuchtet werden konnten oder könnten (wenn man bspw. die Recherche fortsetzen würde) und welche bislang nicht beleuchtet wurden? Welche Perspektiven fehlen im Bild über diese Generation?
  4. Der:Die Referent:in nutzt diese Frage als Überleitung zur nächsten Arbeitsphase, in der es genau um die Perspektiven gehen soll, die nicht unmittelbar oder mittelbar über die Fotografien oder die dazugehörenden Zeitzeug:inerzählungen vermittelt wurden.
Arbeitsphase 2
  1. Die gesamte Seminargruppe schaut sich die folgenden beiden Videos zusammen an:

Dazu bittet der:die Referent:in die Teilnehmer:innen, sich individuell Notizen zu den Arbeitsaufträgen auf ihrem Arbeitsblatt zu machen:

  • Notiert euch, welche Konsequenzen der Systemumbruchs von 1989/90 für die individuelle Lebenssituation des:der Protagonist:in und seines:ihres Umfelds hatte? Geht dabei darauf ein, wie die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der DDR und später des vereinten Deutschlands ihn:sie in geprägt haben.
Frage Zeitzeug:in Mögliche Antworten
Welche Konsequenzen des Systemumbruchs von 1989/90 für die individuelle Lebenssituation des:der Protagonist:in und seines:ihres Umfelds hatte? Geht dabei darauf ein, wie die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der DDR und später des vereinten Deutschlands ihn:sie in geprägt haben. Katharina Warda –        Beide Protagonist:innen sind ebenfalls Angehörige der Dritten Generation Ostdeutschland.

–        Katharina Warda ist 1985 in Wernigerode im Harz geboren und war 1990 entsprechend 5 Jahre alt.

–        Sie hat noch „einige“ Erinnerungen an die DDR: im Kindergarten gewesen zu sein und „darauf zu warten, Pionierin zu werden“ und auch an den Mauerfall – „aber genau erinnern“ kann sie sich nicht.

–        Eine erste „Wendeerfahrung“ ist für sie die erste Konfrontation mit Arbeitslosigkeit: beide Eltern resignieren aufgrund dieser Erfahrung und verlieren ihre Perspektiven, Orientierung und Hoffnung – die Folgen sind in Katharinas Familie heftig: die Mutter wird „sehr depressiv“, der Vater „wird Alkoholiker“.

–        Die zweite „Wendeerfahrung“ ist für Katharina der „Drill“ in der Schule: Die Schüler:innen sollen ostdeutsche Verhaltensweisen „verstecken“ oder „sich abgewöhnen“ – stattdessen sollen sie „besser auftreten, dicker auftragen, Hochdeutsch, statt Dialekt sprechen“.

–        In der Summe erlebt sie diese und andere Erfahrungen persönlich als Abwertung, als Ausgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft. Diese persönlichen Eindrücke spiegeln sich auch in der medialen Darstellung von Ostdeutschen in den 1990er-Jahren: entweder „wie Witzfiguren“ oder sie kamen im Narrativ über die Wiedervereinigung nicht vor.

–        Mit Rassismus macht Katharina seit der Wiedervereinigung bewusst Erfahrungen – und zwar ganz persönlich als Woman of Colour: In ihrer Heimatstadt Wernigerode entwickelte sich sehr schnell eine Naziszene, die durch die bestehenden rechten Strukturen aus dem nahen Westdeutschland unterstützt wurde. Präsent waren „Naziaufmärsche auf dem Marktplatz“, rechte Gewalt im Alltag bspw. auf dem Schulweg. „Um mein Leben zu rennen“ war „keine einmalige Situation“.

–        Katharina findet weder im vereinten Deutschland als Ostdeutsche noch als Woman of Colour ein Zugehörigkeitsgefühl.

Christian Bangel –        Beide Protagonist:innen sind ebenfalls Angehörige der Dritten Generation Ostdeutschland.

–        Christian Bangel wurde 1979 In Frankfurt an der Oder (FFO) geboren und ist im Jahr der Wiedervereinigung 11 Jahre alt.

–        In seiner Heimatstadt prägt das Halbleiterwerk seit Beginn der 1960er-Jahre die Menschen – ein ganzer Neubaustadtteil wird für die Arbeiter:innen, die im Werk angestellt sind, gebaut (1989 ist das jede:r zehnte Einwohner:in von FFO).

–        Der Zusammenbruch der DDR bringt das Halbleiterwerk in die Zahlungsunfähigkeit – tausende Arbeiter:innen werden arbeitslos. Das Wohnviertel, in dem sie leben, „wird zum sozialen Brennpunkt“.

–        Die deutsch-polnische Nachbarschaft wurde zu DDR-Zeiten und in den 1990er-Jahren mehrheitlich nicht gepflegt oder gewollt.

–        In Christians Jugend gehört offen gezeigte Gewaltbereitschaft von Neonazis (ausgestattet mit Baseballschlägern) zum Straßenbild in FFO und direkt, tagtäglich vor seiner Haustür, auf seinem Schulweg, im Öffentlichen Nahverkehr u. s. w. – „wie im Film“, aber „Das war kein Film, das war seine Jugend“.

–        Schutzräume, Save Spaces für die alternative Jugendszene gibt es nur wenige – bspw. die Kulturfabrik.

–        Neonazi-Gewalt wird zum Trauma der 1990er-Jahre – gegen Pol:innen, Andersaussehende, Obdachlose, Punks etc.

–        Ein Teil der Stadtgesellschaft begrüßt die politisch Rechten.

–        Christian erlebt immer wieder Situationen, in denen er vor Nazis wegrennen muss, er wird zusammengeschlagen.

–        Die Angst lässt ihn aus FFO fliehen, sobald er kann.

–        Das Thema greift Christian heute als Journalist und Autor beruflich auf. 2019 teilt er auf Twitter einen Beitrag über den Musiker Hendrik Bolz und ruft unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre all jene auf, ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu teilen, die sich angesprochen fühlen.

–        Und ihn interessiert, wie Hass und Gewalt, die er in seiner Jugend erlebt hat, entstehen, aber auch, ob und wie sie überwunden werden konnten.

Arbeitsphase 3
 

  1. Der:Die Referent:in bittet die Teilnehmer:innen, ihre bisherigen Kenntnisse über die Umbruchserfahrungen der Dritten Generation Ostdeutschland mit den Erfahrungen von Katharina Warda und Christian Bangel in Beziehung zu setzen:
  • Arbeitet Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten oder Widersprüche heraus.
  • Formuliert anschließend eine These zum Thema „Erwachsenwerden in zwei politischen Systemen“ anhand einer der folgenden Fragen und begründet eure These
  • Wie hat sich durch den politischen Umbruch 1989/90 die Welt der damals Jugendlichen verändert?

oder

  • Warum können die Erinnerungen von Menschen einer Generation an ein historisches Ereignis so unterschiedlich sein?