Gabriela, geboren 1977
in Sömmerda

Foto GabrielaSFoto: © Sven Gatter
„In der Wendezeit hat mein Vater uns beigebracht, Achtung zu bewahren.“

Kurzbiografie

Gabriela wird 1977 in Sömmerda geboren. Sie wächst mit ihren beiden älteren Schwestern auf einem Vier-Seiten-Bauernhof auf, umgeben von vielen Tieren, um die sich die Eltern und Großeltern kümmern. Schon mit einem Jahr bringt die Mutter Gabriela jeden Morgen um 5 Uhr auf dem Weg zur Arbeit in die Kinderkrippe. Sie ist Lohnbuchhalterin bei Robotron, dem Computerwerk der DDR. Der Vater ist ausgebildeter Tierpfleger und studierter Ingenieur. Er arbeitet in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.

Als Gabriela vier Jahre alt ist, zieht die Familie nach Beelitz um. Da ist die Luft für ihre Mutter besser, denn sie hat Asthma. Der Abschied von allen Tieren fällt schwer und in der neuen Stadt ist die Familie zunächst unbeliebt. Sie spüren das Misstrauen und hören das Gerede über die „Zugezogenen“. Gabriela versteht den Neid nicht und was an ihnen fremd sein soll. Zumindest beruflich fassen die Eltern schnell wieder Fuß.

1984 kommt Gabriela in die Schule. Dort wird sie erst Jungpionier, ab der 4. Klasse Thälmannpionier. An Pioniernachmittagen, so erinnert sie sich, wurde gemeinsam gesungen – schöne und traurige Lieder, wie das vom kleinen Trompeter. Oder sie besuchen die Patenbrigade in ihrem Betrieb, die ihnen einmal Kugelschreiber schenkt. Den hütet sie jahrelang wie einen Schatz. Ihr Taschengeld bessert Gabriela auf, indem sie alten Menschen die Einkäufe nach Hause trägt oder Altpapier und Kronkorken sammelt und bei der SERO-Annahmestelle abgibt.

Die Familie fährt manchmal nach Ost-Berlin. Gabriela erinnert sich an den Alexanderplatz und an die große Kaufhalle, in der es dreieckige Tüten mit H-Milch gab, die sie sehr lecker fand und nicht verstand, warum sie die nicht jeden Tag haben kann. Bei Bananen ist ihr das egal, die mag sie ohnehin nicht. Eingesperrt fühlt sie sich in der DDR nicht und Freiheit ist für sie als Kind noch ein abstraktes Wort.

Nach den Sommerferien 1989 verändert sich vieles. Auf einmal sind Menschen, die Gabriela kannte, nicht mehr da. Manchmal von einem Tag auf den anderen. Dann haut auch ihre beste Freundin in den Westen ab. Das tut sehr weh. Die Nachricht von der Öffnung der Grenzübergänge am 9. November löst bei ihrer Familie ein Gefühl der Ohnmacht und Skepsis darüber aus, was nun kommen wird. Also führen sie ihren Alltag zunächst ganz normal fort. Erst viel später als andere fahren sie nach Westberlin. Dort sieht Gabriela, wie westdeutsche Supermarktketten von LKWs herunter Lebensmittel verschenken. Die Menschenmenge unten schubst und drängelt, als stünde sie nach Hilfspakten an. Vom Begrüßungsgeld kauft sich Gabriela einen rosa Radiergummi – den hat sie heute noch.

1990 kommt sie aufs Gymnasium. Und zwei Jahre später in die Pubertät. Als Jugendliche erlebt sie die 1990er-Jahre als frei und grenzenlos. Nicht nur, weil man sich in dem Alter ausprobiert, sondern vor allem, weil die alten Regeln nun nicht mehr zählen. Sie werden eher belächelt. Stattdessen zählen nun Markenartikel, Geld und Selbstdarstellung. Mit 15 Jahren ist Gabriela „anti“ – gegen den Kapitalismus, das Establishment und Ungerechtigkeit – oder das, was sie in dem Alter darunter versteht. Sicherheit hingegen fehlt ihr in dieser Zeit. Die können ihr die Eltern nicht geben. Zu unsicher und mit sich beschäftigt sind sie in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Auf der Höhe ihrer beruflichen Laufbahn müssen sie ein neues Leben beginnen. Ihr altes hat im neuen Gesellschaftssystem keinen Wert mehr. Gabriela hingegen lernt mit der Zeit, mit Selbstbewusstsein zu reagieren, wenn man sie belächelt, weil sie aus dem Osten kommt.

Nach der 10. Klasse wechselt sie aufs humanistische Gymnasium in Potsdam, um Menschen zu treffen, denen Menschlichkeit wichtiger ist als das Äußere. Anfangs lebt sie in einem besetzten Haus, denn das Zimmer im Internat ist zu teuer; dann in Wohnungen, für die sie neben der Schule kellnern geht. Nach dem Abitur beginnt sie mit einem Literaturwissenschaftsstudium, bricht aber nach einem Jahr ab und macht eine kaufmännische Ausbildung. Sie fängt ein Studium der Kultur an. Soziales Engagement für andere Menschen bleibt ihr immer wichtig. Karriere und das große Geld sind ihr hingegen egal. Nach dem Studium bewirbt sie sich bei einem sozialen Unternehmen, das Menschen in benachteiligten Lebenssituationen unterstützt. Dort berät sie auch junge Gründer mit sozialen Ideen, die sie noch aus ihrer Kindheit kennt, wie Nachbarschaftshilfe oder verpackungsfreies Einkaufen. Das weckt Erinnerungen. Sehnsucht nach der DDR hat Gabriela dennoch keine, aber auch die Bundesrepublik wird nicht ihre Heimat. Die bleibt die kleine Stadt Beelitz, in der sie aufgewachsen ist und die sie geprägt hat. Dort lebt sie seit 2016 wieder mit ihrer Tochter.

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