Clemens, geboren 1979
in Dresden

Foto: © privat
„Die Veränderungen nach 1989/90 und die tiefe Verunsicherung meiner Eltern rissen mich aus meinen Lebensträumen.“

Kurzbiografie

Clemens wird 1979 in Dresden geboren. Er wächst in einem kirchlichen Umfeld auf: Seine Eltern sind in der Studentengemeinde an der TU Dresden aktiv. Ihre Freizeit verbringen sie mit Freunden aus der Gemeinde, von denen viele ebenfalls Kinder haben. Die Kinder werden Clemens‘ Freunde, wenn die Eltern abends ausgehen, übernachtet er mal bei ihnen, mal sie bei ihm. Viele Nachmittage verbringt er in den Hinterhöfen in seinem Viertel, wo er seine Freunde trifft. Manchmal steigen sie in ein altes, verfallenes Haus aus der Gründerzeit ein, wie es zu der Zeit viele in Dresden gibt.

Zu den prägendsten Erlebnissen seiner Kindheit gehören für Clemens die Rüstzeiten der Kirchengemeinde. Da gibt es gemeinsame Andachten und Gottesdienste, aber auch viele gemeinsame Begegnungen und Ausflüge. Zu diesen Sommerlagern fahren auch Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen mit. Von ihnen lernt er, was es beispielsweise heißt, nicht laufen oder sehen zu können. Nach 1990 enden die Rüstzeiten auf einmal. Für Clemens ist das ein erster Hinweis auf die Risse, die sich bald im bisher gewohnten kirchlichen Umfeld zeigen.

Im September 1986 kommt Clemens in die Schule. Er ist fast 7 Jahre alt. Er findet schnell Anschluss, doch schon im Winter muss er für zwei Jahre auf eine andere Schule wechseln. Er hat Epilepsie und die Nebenwirkungen der Medikamente schränken ihn ein. Er muss einige Zeit auf eine Sonderschule wechseln. Im Sommer 1989 kommt er an seine alte Schule zurück und versucht, im alten neuen Umfeld wieder Anschluss zu finden. Er schließt neue Freundschaften, nachmittags verabreden sie sich manchmal, um beispielsweise die Serie Knight Rider zu gucken, die im Westfernsehen läuft.

Wenige Wochen später, im Herbst 1989, kommen einige seiner Freunde auf einmal nicht mehr zur Schule. Und seine Eltern erlebt Clemens schon seit dem Frühjahr besonders aktiv in der kirchlichen Opposition: Anfang Mai 1989 sind in der ganzen DDR Kommunalwahlen. Die Eltern koordinieren gemeinsam mit anderen Bürgerrechtler:innen, wie sie die Auszählung der Wahlergebnisse in Dresden kontrollieren und Wahlfälschungen belegen können – mit Erfolg. Im Herbst gehen sie dann oft auf Demonstrationen, denn sie wünschen sich Reformen im Sozialismus. Clemens darf erst mit, als die Demonstrationen vor dem Eingriff von Polizei oder Stasi sicher scheinen. Dort erlebt er die Menschen mit Kerzen in den Händen als eine feierliche Menge. Den Mauerfall kennt er dann nur als Ereignis aus dem Fernsehen.

Die Veränderungen für die Familie und den unmittelbaren Freundeskreis lassen keine Freudenstimmung aufkommen. Es beginnt eine Phase der Verunsicherung für ihn und seine Freunde, als auch für seine Eltern und Lehrer:innen. Der familiäre Freundeskreis zerbricht nach der Wende in „Gewinner“ und Verlierer“ des Umbruchs. Plötzlich haben die einen ein neues Auto, während die anderen ohne Mietvertrag dastehen. Clemens‘ Vater verliert 1991 seine Stelle als Ingenieur für Messtechnik, es folgen viele Umschulungen und nur kurzfristige Anstellungen. Die Mutter wird als Programmiererin beim ehemaligen Kombinat Robotron vom neuen Eigentümer übernommen und wechselt bald zu SAP. Dafür muss sie jedoch in Heidelberg arbeiten. Anfangs pendelt sie. Im Frühjahr 1992 zieht die Familie nach Heidelberg, doch mit ihren Erfahrungen und Hoffnungen finden sie keinen Anschluss. Die Lebensweise dort erleben sie als kulturellen Schock: Die gesellschaftlichen Umwälzungen in Dresden erscheinen in Heidelberg weit weg und sind kaum spürbar. Clemens fühlt sich fremd und ausgeschlossen. Noch in Dresden war er mit Beginn der 6. Klasse im Herbst 1991 aufs Gymnasium gekommen – nun, kurz darauf, wieder ein Schulwechsel und ein ganz neues Umfeld. Bald fährt die Familie an den Wochenenden immer häufiger nach Dresden. Schließlich ziehen sie 1994 zurück nach Dresden – entgegen aller finanziellen Vernunft. Zurück in ihr soziales Netzwerk, aber auch zurück in den beruflichen Existenzkampf der Eltern.

Clemens hingegen kann mit der Rückkehr an sein Gymnasium und in die kirchlichen Kreise wieder Stabilität erlangen. Das gibt ihm Sicherheit, sich künstlerisch auszuleben. Er entdeckt insbesondere das Theater für sich. Zudem beginnt er, sich als Jugendlicher die Welt auf Reisen nach Italien, Nordeuropa, Schottland oder Irland zu erschließen. 1998 macht er Abitur. Danach leistet er ein Jahr Zivildienst in einem Altenheim und einer Orthopädieklinik. Statt, wie in seinen früheren Berufswünschen, Maler, Architekt oder Schauspieler zu werden, beginnt Clemens 2000 ein Soziologiestudium. Er will die gesellschaftlichen Unsicherheiten nach dem Systemumbruch 1989/90 verstehen lernen.

In seinem Berufsleben bleibt er Wissenschaftler, forscht in Karlsruhe und Berlin dazu, wie Innovationen entstehen. Mit Anfang 30 beginnt er, sich mit den Umbruchserfahrungen seiner Familie auseinanderzusetzen, Stärke daraus zu ziehen. Die Erfahrung, in zwei unterschiedlichen Systemen aufgewachsen zu sein, schärft sein Bewusstsein dafür, dass Dinge nie nur schwarz und weiß sind. Er lernt, dass es hilft, erst einmal zuzuhören und Menschen nicht schnell zu bewerten. So gelingt es ihm beispielsweise, Gründe zu besser verstehen, warum so viele Menschen die Aufnahme der großen Zahl Geflüchteter in Deutschland seit 2015 so stark ablehnen: Viele konnten ihre Umbruchserfahrung noch nicht bewältigen und vermissen eine Anerkennung für ihre Lebensleistungen in der DDR. Und ihm wird bewusst, dass die Auseinandersetzung mit den Umbruchserfahrungen ein wichtiger Teil seiner Identität und seiner Familiengeschichte ist.

Heute hat Clemens zwei Söhne und er lebt und arbeitet in Berlin.

Downloads


    Kontakt mit Clemens aufnehmen

    Bitte beachten Sie, dass Ihre Nachricht aus Gründen der Qualitätssicherung sowohl bei dem/der Zeitzeug*in als auch beim Redaktionsteam des Zeitenwende-Lernportals eingeht. Eine Eingangsbestätigung erhalten Sie automatisch an Ihre E-Mail-Adresse.

    Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden.