Christiane, geboren 1980
in Ostberlin

Foto: © Miriam Papstefanou
„Für meine Eltern wurde ich zur Vermittlerin zwischen beiden Systemen.“

Kurzbiografie

Christiane wird 1980 in Ostberlin geboren. Dort wächst sie im Stadtteil Prenzlauer Berg auf, wo sie mit ihren Eltern und einer Halbschwester in einem großen Neubau-Wohngebiet lebt. Sie ist die jüngste unter insgesamt vier Halbgeschwistern. Ihr Vater, Jahrgang 1930, ist für DDR-Verhältnisse bei ihrer Geburt schon sehr alt. Als Junge ist er in der Hitlerjugend und Flakhelfer. Nach dem Zweiten Weltkrieg ändert er seine Weltsicht, als er von den Konzentrationslagern der Nazis erfährt. Er wird Kommunist und SED-Mitglied und verpflichtet sich dem Aufbau des jungen sozialistischen Staates.

Durch ihre sozialistische Überzeugung haben Christianes Eltern viele Möglichkeiten im SED-Staat. Als erste in ihren Familien können sie studieren. Der Vater wird schließlich Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Im Sinne des Sozialismus erziehen die Eltern auch ihre Kinder. Wenn sie manchmal lang arbeiten, können sie Christiane erst spät aus dem Kindergarten abholen.

Als Christiane 1987 in die Schule kommt, darf sie den Schulweg allein gehen. Die Schule liegt ganz nah an ihrer Wohnung. Sie ist nun ein „Schlüsselkind“ wie viele andere Kinder auch, mit denen sie sich im Sommer in den Höfen der Siedlung trifft. Wenn sie abends nach Hause kommen soll, ruft die Mutter vom Balkon aus nach ihr.

Christiane geht gern zur Schule, bekommt gute Noten und freut sich, Jungpionier zu sein. In ihrer Klasse wird sie Gruppenratsvorsitzende, ihre Freundin wird Wandzeitungsredakteurin. Nicht alles, was sie als Kind bei den Montagmorgenapellen, auf Pioniernachmittagen oder in den Liedern über antifaschistische Widerstandskämpfer hört, versteht Christiane. Vieles erscheint ihr sehr abstrakt, aber keiner fragt nach, auch sie nicht. Ihr gefallen die Apelle und die Musik dennoch.

Im Herbst 1989 ist Christiane neun Jahre alt und geht in die dritte Klasse. Sie bekommt zwar mit, dass das DDR-Fernsehen Berichte über Menschen zeigt, die über Ungarn oder die CSSR nach Österreich und in die BRD ausreisen wollen. Aber was die bedeuten, weiß sie nicht. Ihre Eltern reden nicht darüber. Dann öffnen am 9. November die Grenzübergänge nach Westberlin und Westdeutschland. Christiane sieht rings um sich, wie sich alle freuen. Im Kontrast dazu aber erlebt sie ihre Eltern: ungläubig und abwartend, wie es weiter gehen wird; ob die Grenzen wirklich offen bleiben. Manche Mitschüler kommen am Samstag nach dem Mauerfall nicht zur Schule. Anfang Dezember überredet Christiane ihre Eltern schließlich neugierig zu einem Ausflug nach Westberlin. Dort kommt sie sich vor wie in einem anderen Universum. Ansonsten bleibt in ihrer Familie auch Wochen nach dem Mauerfall scheinbar alles beim Alten. Das liegt am großen Schweigen ihrer Eltern. Sie sprechen nicht über die politischen Ereignisse, nicht über ihre Enttäuschungen, nicht über die unsichere Zukunft oder wie man sich in diesem neuen System zurechtfinden soll. Für das Gefühl der Ohnmacht, weil sich alles so schnell verändert, finden sie für lange Zeit keine Worte.

1990 kündigt Christianes Vater von einem Tag auf den anderen. Der Berliner Senat würde ihn zwar weiterbeschäftigen. Aber für den „Klassenfeind“ aus dem Westen will er nicht arbeiten. Stattdessen ist er nun Hausmann, kocht Essen und wäscht die Wäsche. Es ist Christianes Mutter, die als Beamtin fortan die Familie gut ernähren kann. Es gibt keine Geldsorgen, die Familie reist im Urlaub durch die ganze Welt. Und für Christiane beginnt 1991 ein neues Leben: Mit guten Noten bewirbt sie sich auf das Französische Gymnasium im Westen Berlins. Nun lernt sie eine Sprache, die niemand in ihrer Familie spricht. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler kommen aus Ländern, von denen sie bisher nie gehört hat. Dass sie in der DDR aufgewachsen ist, interessiert niemanden. Man versteht sich auf Deutsch oder Französisch. Als Teenager Mitte der 1990er-Jahre ist Christiane für ihr Alter sehr eigenständig. Sie trifft ihre Freunde und geht auf die angesagten Partys und Festivals in Berlin. Oft ist Christiane aber auch auf sich allein gestellt: Die Eltern können ihr bei Problemen im neuen Schulsystem nicht helfen und haben mit den Umbrüchen in ihren eigenen Leben zu tun.

Für das Studium bleibt Christiane in Berlin und geht zum Studienaustausch ein Jahr nach Frankreich. Danach liegen ihre Berufsstationen mal in und mal außerhalb Berlins und sie engagiert sich ehrenamtlich in Projekten europaweit. Erst spät beginnt Christiane, hinter den Vorhang des Schweigens in ihrer Familie zu schauen. Die Folgen des Umbruchs von 1989/90 für ihre Familie und ihre eigene Identität beschäftigen sie. Sie fragt sich, wo sich ihre Erfahrungen des Systemumbruchs, die so viele gemacht haben, im politischen und öffentlichen Diskurs wiederfinden. Christiane wünscht sich, dass die Leistung vieler Ostdeutscher, sich in das neue System nach der Wiedervereinigung hineinzufinden, öffentlich mehr anerkannt wird. Denn sie weiß: Das Versprechen, dass es durch die Wiedervereinigung allen besser gehen würde, hat sich nicht für jeden eingelöst.

Heute lebt und arbeitet Christiane in Berlin. Sie hat eine Tochter.

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