Kathleen, geboren 1981
in Neubrandenburg

Foto KathleenLFoto: © Sven Gatter
„Nach und nach zogen alle weg.“

Kurzbiografie

Kathleen wird 1981 in Neubrandenburg geboren und wächst dort auf. Als sie drei Jahre alt ist, zieht die Familie in eine neue Plattenbauwohnung. Sie wohnt im ersten Straßenzug der Siedlung und die Baustellen ringsherum sind wie eine große Sandwüste, in der sie mit anderen Kindern spielt. Im Kindergarten schließt sie Freundschaften mit Kindern, die auch im Viertel wohnen und später mit ihr gemeinsam auf die Schule gehen. Manchmal bleibt sie lange im Kindergarten, bis ihre Eltern sie nach der Arbeit abholen. Beide sind Agraringenieure.

In Kathleens Kindheit hat die Familie noch kein Auto. Erst im Sommer 1989 kauft der Vater für viel Geld einen gebrauchten Trabi. Ein Telefon besitzt nur die Oma, die auf einem kleinen Dorf bei der Post arbeitet. Die Eltern pachten einen Kleingarten, in dem sie viel Obst und Gemüse anbauen. Kathleen und ihre ältere Schwester helfen bei der Gartenarbeit und was die Familie erntet, wird eingeweckt, um einen Vorrat anzulegen. Für manche Dinge, die es in der DDR nur selten zu kaufen gibt, stehen die Menschen an den HO-Läden Schlange. Kathleen erinnert sich, dass sie als Jüngste immer vorgeschickt wurde, wenn es Bananen, Apfelsinen oder Wassermelone gab.

Die Ereignisse im Herbst 1989 verfolgt die Familie in den Nachrichten, aber sie scheinen zunächst weit weg zu sein. Das ändert sich nach dem Mauerfall. Sonnabends kommen immer weniger Kinder zum Unterricht, denn sie fahren mit ihren Familien in den Westen, um das Begrüßungsgeld abzuholen. Bald darauf gibt es schulfrei und dann fällt der 6. Unterrichtstag ganz weg. Auch Kathleens Familie besucht Westberlin. In einem Supermarkt sind ihre Eltern von dem Angebot komplett überfordert. Sie kaufen nur Bananen und ein paar Tafeln Schokolade. Erst beim zweiten Ausflug nach Westberlin kommen ein Radiowecker und je ein Walkman für die beiden Schwestern dazu.

Als Kathleen 1991 aufs Gymnasium kommt, muss sie nicht mehr Russisch als erste Fremdsprache lernen, sondern beginnt mit Englisch. In der DDR wäre sie in der 4. Klasse Thälmannpionier geworden. Dass es die Jugendorganisation nun nicht mehr gibt, enttäuscht sie. Aus Kathleens Wohnumfeld ziehen viele Freunde weg – in neu gebaute Einfamilienhäuser am Stadtrand und in den umliegenden Dörfern, manche ziehen auch in den Westen. Aus dem Hausaufgang im Plattenbau verschwinden nach und nach auch immer mehr der bisherigen Mietparteien, während Kathleens Familie dort wohnen bleibt. Zwar ist ein Umzug in ein Eigenheim immer wieder Thema, aber weil beide Eltern direkt nach der Wende arbeitslos werden und in neuen Berufen Fuß fassen müssen, sind sie unsicher, ob sie so eine große Investition wagen sollen. Wenn Kathleen nach der Schule allein ist, bis die Eltern nach Hause kommen, schaut sie viel fern. Sie kümmert sich selbst um ihr Essen, das oft aus Resten vom Vorabend oder Fertiggerichten besteht. In dieser Zeit klingeln immer wieder Vertreter an der Tür und wollen Versicherungen, Staubsauger und andere Produkte verkaufen.

Die Eltern finden neue Anstellungen als Polier im Straßenbau und als Bürokauffrau. Nach der Wende reist die Familie erstmals auch in fremde Länder – nach Italien an den Gardasee, nach Österreich und in die Tschechoslowakei. Kathleen erlebt ihre Eltern dabei als aufgeregt und manchmal etwas unbeholfen, denn bisher fehlte es ihnen an solchen Reiseerfahrungen. Sie selbst nimmt während des Gymnasiums am Schüleraustausch mit Schweden und Frankreich teil, reist zum Sprachunterricht nach England und zur Klassenfahrt nach Holland. Weil ihre Eltern ein Schuljahr in den USA nicht bezahlen können, sucht Kathleen nach dem Abitur eigene Wege und geht als Au Pair für ein Jahr nach Amerika.

Auslandserfahrungen gehören seit der Wende zu Kathleens Leben. Sie studiert Sprachen, promoviert zur US-amerikanischen Erinnerungskultur und reist regelmäßig in die USA. Die Menschen dort, die Familie ihres spanischen Mannes, aber auch ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen interessieren sich für ihre ostdeutsche Herkunft. Zu der gehört für Kathleen insbesondere die Beobachtung, welcher Bruch der Mauerfall und seine Folgen in den Lebensbiografien ihrer Eltern war. Und zum anderen ein Heimatgefühl, das sie mit ihrer Kindheit in der DDR verbindet und mit ihren Schulfreunden noch immer teilen kann.

Kathleen lebt heute in Berlin.

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