Kategorie: Zeitzeugen

Gabriela, geboren 1977
in Sömmerda

Foto GabrielaS
„In der Wendezeit hat mein Vater uns beigebracht, Achtung zu bewahren.“

Kurzbiografie

Gabriela wird 1977 in Sömmerda geboren. Sie wächst mit ihren beiden älteren Schwestern auf einem Vier-Seiten-Bauernhof auf, umgeben von vielen Tieren, um die sich die Eltern und Großeltern kümmern. Schon mit einem Jahr bringt die Mutter Gabriela jeden Morgen um 5 Uhr auf dem Weg zur Arbeit in die Kinderkrippe. Sie ist Lohnbuchhalterin bei Robotron, dem Computerwerk der DDR. Der Vater ist ausgebildeter Tierpfleger und studierter Ingenieur. Er arbeitet in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.

Als Gabriela vier Jahre alt ist, zieht die Familie nach Beelitz um. Da ist die Luft für ihre Mutter besser, denn sie hat Asthma. Der Abschied von allen Tieren fällt schwer und in der neuen Stadt ist die Familie zunächst unbeliebt. Sie spüren das Misstrauen und hören das Gerede über die „Zugezogenen“. Gabriela versteht den Neid nicht und was an ihnen fremd sein soll. Zumindest beruflich fassen die Eltern schnell wieder Fuß.

1984 kommt Gabriela in die Schule. Dort wird sie erst Jungpionier, ab der 4. Klasse Thälmannpionier. An Pioniernachmittagen, so erinnert sie sich, wurde gemeinsam gesungen – schöne und traurige Lieder, wie das vom kleinen Trompeter. Oder sie besuchen die Patenbrigade in ihrem Betrieb, die ihnen einmal Kugelschreiber schenkt. Den hütet sie jahrelang wie einen Schatz. Ihr Taschengeld bessert Gabriela auf, indem sie alten Menschen die Einkäufe nach Hause trägt oder Altpapier und Kronkorken sammelt und bei der SERO-Annahmestelle abgibt.

Die Familie fährt manchmal nach Ost-Berlin. Gabriela erinnert sich an den Alexanderplatz und an die große Kaufhalle, in der es dreieckige Tüten mit H-Milch gab, die sie sehr lecker fand und nicht verstand, warum sie die nicht jeden Tag haben kann. Bei Bananen ist ihr das egal, die mag sie ohnehin nicht. Eingesperrt fühlt sie sich in der DDR nicht und Freiheit ist für sie als Kind noch ein abstraktes Wort.

Nach den Sommerferien 1989 verändert sich vieles. Auf einmal sind Menschen, die Gabriela kannte, nicht mehr da. Manchmal von einem Tag auf den anderen. Dann haut auch ihre beste Freundin in den Westen ab. Das tut sehr weh. Die Nachricht von der Öffnung der Grenzübergänge am 9. November löst bei ihrer Familie ein Gefühl der Ohnmacht und Skepsis darüber aus, was nun kommen wird. Also führen sie ihren Alltag zunächst ganz normal fort. Erst viel später als andere fahren sie nach Westberlin. Dort sieht Gabriela, wie westdeutsche Supermarktketten von LKWs herunter Lebensmittel verschenken. Die Menschenmenge unten schubst und drängelt, als stünde sie nach Hilfspakten an. Vom Begrüßungsgeld kauft sich Gabriela einen rosa Radiergummi – den hat sie heute noch.

1990 kommt sie aufs Gymnasium. Und zwei Jahre später in die Pubertät. Als Jugendliche erlebt sie die 1990er-Jahre als frei und grenzenlos. Nicht nur, weil man sich in dem Alter ausprobiert, sondern vor allem, weil die alten Regeln nun nicht mehr zählen. Sie werden eher belächelt. Stattdessen zählen nun Markenartikel, Geld und Selbstdarstellung. Mit 15 Jahren ist Gabriela „anti“ – gegen den Kapitalismus, das Establishment und Ungerechtigkeit – oder das, was sie in dem Alter darunter versteht. Sicherheit hingegen fehlt ihr in dieser Zeit. Die können ihr die Eltern nicht geben. Zu unsicher und mit sich beschäftigt sind sie in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Auf der Höhe ihrer beruflichen Laufbahn müssen sie ein neues Leben beginnen. Ihr altes hat im neuen Gesellschaftssystem keinen Wert mehr. Gabriela hingegen lernt mit der Zeit, mit Selbstbewusstsein zu reagieren, wenn man sie belächelt, weil sie aus dem Osten kommt.

Nach der 10. Klasse wechselt sie aufs humanistische Gymnasium in Potsdam, um Menschen zu treffen, denen Menschlichkeit wichtiger ist als das Äußere. Anfangs lebt sie in einem besetzten Haus, denn das Zimmer im Internat ist zu teuer; dann in Wohnungen, für die sie neben der Schule kellnern geht. Nach dem Abitur beginnt sie mit einem Literaturwissenschaftsstudium, bricht aber nach einem Jahr ab und macht eine kaufmännische Ausbildung. Sie fängt ein Studium der Kultur an. Soziales Engagement für andere Menschen bleibt ihr immer wichtig. Karriere und das große Geld sind ihr hingegen egal. Nach dem Studium bewirbt sie sich bei einem sozialen Unternehmen, das Menschen in benachteiligten Lebenssituationen unterstützt. Dort berät sie auch junge Gründer mit sozialen Ideen, die sie noch aus ihrer Kindheit kennt, wie Nachbarschaftshilfe oder verpackungsfreies Einkaufen. Das weckt Erinnerungen. Sehnsucht nach der DDR hat Gabriela dennoch keine, aber auch die Bundesrepublik wird nicht ihre Heimat. Die bleibt die kleine Stadt Beelitz, in der sie aufgewachsen ist und die sie geprägt hat. Dort lebt sie seit 2016 wieder mit ihrer Tochter.

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    Judith, geboren 1976
    in Altenburg

    Foto JudithE
    „Nichts bleibt ewig, alles kann sich ändern, und das sehr schnell.“

    Kurzbiografie

    Judith wird 1976 in Altenburg im heutigen Thüringen geboren. Drei Jahre später zieht die Familie nach Wittstock, das gut 120 Kilometer nördlich von der Hauptstadt Berlin liegt. Judiths Mutter ist gelernte Krankenschwester, der Vater Straßenbahnschlosser. Beide Eltern absolvieren an einer Arbeiter- und Bauernfakultät einen Abschluss, mit dem sie auf eine Universität gehen dürfen. Sie studieren Medizin und arbeiten im Anschluss als leitende Ärzte. Dennoch treten die Eltern in keine Partei ein und ihren Freundeskreis bezeichnen sie als eher systemkritisch.

    Judith geht in den Kindergarten, der zur Arbeitsstelle ihrer Eltern gehört. Im Alter von sechs Jahren wird sie 1982 in eine Polytechnische Oberschule (POS) in Wittstock eingeschult. In der ersten Klasse wird sie Jungpionier, in der 4. Klasse Thälmannpionier. Judith gehört auch zum Gruppenrat der Pioniere, der beispielsweise Pioniernachmittage für alle organisiert. Überhaupt nimmt sie als Kind an vielen Angeboten und Wettbewerben an ihrer Schule teil: Sie sammelt Altstoffe für die SERO-Sammlung, singt im Chor, ist erfolgreich bei Matheolympiaden und ist Mitglied im Mathe- und Russischclub. Im Alter von 13 Jahren wird Judith im Frühjahr 1989 in die FDJ aufgenommen. Die Aufnahmezeremonie findet in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen statt. Als Judith als Erste an ihrer Schule im September 1989 wieder aus der FDJ austritt, wird sie zur Direktorin bestellt und unter Druck gesetzt.

    Im Sommerurlaub 1989 in der Slowakei häufen sich die kritischen Gespräche bei den Erwachsenen. Die neue Politik in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow lässt auch sie auf Veränderungen in der DDR hoffen. Als die Familie Ende August 1989 aus den Ferien zurückreist, kommen ihnen all jene entgegen, die die Fluchtchance über Ungarn nutzen wollen.

    Dann beginnt die Zeit der Montagsdemonstrationen in Leipzig, über die im Westfernsehen berichtet wird. Auch in Wittstock gibt es ab September 1989 erste Demos. Judith geht mit ihren Freunden hin. Als die DDR am 7. Oktober 1989 den 40. Jahrestag ihrer Gründung feiert, befürchtet die SED-Führung Demonstrationen. Vor allem in Ostberlin soll ein Großaufgebot der Polizei die Feierlichkeiten schützen. Deshalb sind in diesen Tagen Freunde aus Berlin zu Besuch, die sich auf dem Land in Wittstock sicherer fühlen. Sie haben Angst, dass die Staatsführung gewaltsam auf die Demonstrationen reagieren könnte.

    Am 9. November 1989 sieht Judith in den Westnachrichten auch den Bericht über die Pressekonferenz mit Günther Schabowski. Als dieser „unverzüglich“ Reiseerleichterungen für
    DDR-Bürger ankündigt, weiß sie, dass gerade etwas Wichtiges passiert ist. Sie beobachtet die politischen Veränderungen weiter aufmerksam. Schon Ende 1989 vermutet sie, dass die Parteien aus dem Westen die neugegründeten Parteien und politischen Gruppen in der DDR verdrängen werden. Bald schon ist es vielen Menschen am wichtigsten, auch in der DDR die
    D-Mark zu haben. Die Rufe nach einer Wiedervereinigung nehmen zu. Dass damit der eigene Gestaltungswille der DDR-Bürgerbewegung keine Chance bekommen wird, findet sie traurig. Schnell spürt sie einen enormen Druck auf die Ostdeutschen, sich den westdeutschen Verhältnissen und Vorgaben anzupassen.

    Für Judiths Eltern bringt die Wendezeit auch große Veränderungen im Beruf mit sich. Ihre Mutter wird arbeitslos und findet eine neue Anstellung in Westdeutschland, der Vater hingegen macht sich als Arzt mit einer Praxis in Wittstock selbständig. Die Eltern leben seit 1985 getrennt. Judith zieht mit ihrer Mutter 1993 nach Marburg. Da ist sie in der 11. Klasse und für sie ist es eine Migrationserfahrung, denn so kurz nach der Wende ist das Leben in einer westdeutschen Stadt so ganz anders als sie es bisher kannte.

    Nach einem Jahr geht Judith allein „zurück“ nach Ostberlin und beendet dort das Abitur. Sie studiert an der Freien Universität Politikwissenschaften. Nach zwei Jahren Arbeitserfahrung in Gewerkschaften und wissenschaftlichen Einrichtungen promoviert sie mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung an der Universität Kassel. Während dieser Zeit forscht und arbeitet sie auch in Berlin und New York.

    Heute hat Judith einen Sohn. Sie lebt, arbeitet und engagiert sich ehrenamtlich in Berlin.

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      Marek, geboren 1978
      in Dessau

      Foto MarekB
      „Ich hatte eine schöne Kindheit und die ging nach der Wende auch so weiter.“

      Kurzbiografie

      Marek wird 1978 in Dessau geboren. Als er ein Jahr alt ist, gehen seine Eltern beruflich nach Äthiopien, wo die Familie fünf Jahre lebt. Eine Zeit, die seine Kindheit am stärksten prägt und an die er bis heute viele tolle Erinnerungen knüpft. Erst zu seiner Einschulung ziehen sie zurück nach Dessau in ein Neubauviertel. Die Siedlung ist gerade neu entstanden und die umliegenden Baustellen werden für Marek und seine Freunde zu Spielplätzen. In dieser Zeit beginnt er auch mit dem Schwimmen. Er ist darin so gut, dass er 1989 einen Platz an der Sportschule in Halle erhält.

      Fortan prägen Sport und Schule seine Kindheit und Jugend. Bis zum Abitur 1997 ist der Tagesablauf darauf ausgerichtet, dass Marek und seine Mitschüler trainieren, die Schule meistern, an Wettkämpfen teilnehmen und sportliche Erfolge erringen. Die Sportschule wird zum Lebensmittelpunkt, er lebt im Internat, schließt dort Freundschaften und fährt an den Wochenenden oft zu Wettkämpfen. Dadurch lernt er viele Städte in Westdeutschland kennen, kommt dort bei Gastfamilien unter und ist anfangs auch schon mal von deren Lebensstandard beeindruckt. Zeit für Freizeit, Hobbys oder nächtliche Ausflüge in Kneipen oder Clubs bleibt ihm nicht. Seine Familie sieht er am Wochenende oder in den Ferien.

      An die Friedliche Revolution im Herbst 1989 hat Marek keine bewussten Erinnerungen. Aus der Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall weiß er noch, dass Freunde auf einmal weg waren oder dass samstags kein Unterricht mehr stattfand.

      An der neuen Schule gab es zudem eine Zeit des Durcheinanders und auch der Verunsicherung: Trainer kamen und gingen und von vielen Mitschülern erfuhr man existenzielle Geschichten aus den Elternhäusern – vom Jobverlust über Stasivorwürfe bis hin zur Auswanderung in den Westen.

      Er erinnert sich an den ersten Besuch in Westberlin, den er spannend fand, aber auch an die Verunsicherung seiner Eltern über das, was nun kommen wird. Für seine Eltern ist es eine Zeit der Umbrüche und Veränderungen, in der sie aber beruflich schnell wieder ankommen. Marek hingegen hat das Gefühl, dass das Leben halbwegs normal weitergeht.

      Für den Umgang mit der DDR-Geschichte findet er einen Ansatz aus der Geschichtswissenschaft sehr hilfreich. Dieser blickt auf die Alltagsgeschichte der DDR und kann verdeutlichen, dass das Leben unter der SED-Diktatur von Grenzen bestimmt war; dass es aber innerhalb dieser Grenzen sehr wohl möglich war, Kritik zu üben, sein Leben zu leben, berufliche Erfolge zu feiern oder Hobbys zu haben. Diesen alltagsgeschichtlichen Blick auf die DDR findet Marek wertvoll, weil er die Vielfalt ostdeutscher Alltagserfahrungen respektiert. Die Erfahrungen der Ostdeutschen können so als ein Bestandteil der Geschichte des vereinten Deutschlands verstanden werden. Dabei muss man den Alltag nicht verklären und auch nicht infrage stellen, dass die DDR eine Diktatur war.

      Für sich persönlich beschreibt Marek die Wende als einen Segen. Er konnte frei reisen und in Berlin studieren, seine Erfahrungen mit neuen Freunden aus Westdeutschland teilen. Er hat einen besseren materiellen Wohlstand und kann sich frei politisch engagieren.

      Heute lebt und arbeitet Marek in Berlin.

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        Kathleen, geboren 1981
        in Neubrandenburg

        Foto KathleenL
        „Nach und nach zogen alle weg.“

        Kurzbiografie

        Kathleen wird 1981 in Neubrandenburg geboren und wächst dort auf. Als sie drei Jahre alt ist, zieht die Familie in eine neue Plattenbauwohnung. Sie wohnt im ersten Straßenzug der Siedlung und die Baustellen ringsherum sind wie eine große Sandwüste, in der sie mit anderen Kindern spielt. Im Kindergarten schließt sie Freundschaften mit Kindern, die auch im Viertel wohnen und später mit ihr gemeinsam auf die Schule gehen. Manchmal bleibt sie lange im Kindergarten, bis ihre Eltern sie nach der Arbeit abholen. Beide sind Agraringenieure.

        In Kathleens Kindheit hat die Familie noch kein Auto. Erst im Sommer 1989 kauft der Vater für viel Geld einen gebrauchten Trabi. Ein Telefon besitzt nur die Oma, die auf einem kleinen Dorf bei der Post arbeitet. Die Eltern pachten einen Kleingarten, in dem sie viel Obst und Gemüse anbauen. Kathleen und ihre ältere Schwester helfen bei der Gartenarbeit und was die Familie erntet, wird eingeweckt, um einen Vorrat anzulegen. Für manche Dinge, die es in der DDR nur selten zu kaufen gibt, stehen die Menschen an den HO-Läden Schlange. Kathleen erinnert sich, dass sie als Jüngste immer vorgeschickt wurde, wenn es Bananen, Apfelsinen oder Wassermelone gab.

        Die Ereignisse im Herbst 1989 verfolgt die Familie in den Nachrichten, aber sie scheinen zunächst weit weg zu sein. Das ändert sich nach dem Mauerfall. Sonnabends kommen immer weniger Kinder zum Unterricht, denn sie fahren mit ihren Familien in den Westen, um das Begrüßungsgeld abzuholen. Bald darauf gibt es schulfrei und dann fällt der 6. Unterrichtstag ganz weg. Auch Kathleens Familie besucht Westberlin. In einem Supermarkt sind ihre Eltern von dem Angebot komplett überfordert. Sie kaufen nur Bananen und ein paar Tafeln Schokolade. Erst beim zweiten Ausflug nach Westberlin kommen ein Radiowecker und je ein Walkman für die beiden Schwestern dazu.

        Als Kathleen 1991 aufs Gymnasium kommt, muss sie nicht mehr Russisch als erste Fremdsprache lernen, sondern beginnt mit Englisch. In der DDR wäre sie in der 4. Klasse Thälmannpionier geworden. Dass es die Jugendorganisation nun nicht mehr gibt, enttäuscht sie. Aus Kathleens Wohnumfeld ziehen viele Freunde weg – in neu gebaute Einfamilienhäuser am Stadtrand und in den umliegenden Dörfern, manche ziehen auch in den Westen. Aus dem Hausaufgang im Plattenbau verschwinden nach und nach auch immer mehr der bisherigen Mietparteien, während Kathleens Familie dort wohnen bleibt. Zwar ist ein Umzug in ein Eigenheim immer wieder Thema, aber weil beide Eltern direkt nach der Wende arbeitslos werden und in neuen Berufen Fuß fassen müssen, sind sie unsicher, ob sie so eine große Investition wagen sollen. Wenn Kathleen nach der Schule allein ist, bis die Eltern nach Hause kommen, schaut sie viel fern. Sie kümmert sich selbst um ihr Essen, das oft aus Resten vom Vorabend oder Fertiggerichten besteht. In dieser Zeit klingeln immer wieder Vertreter an der Tür und wollen Versicherungen, Staubsauger und andere Produkte verkaufen.

        Die Eltern finden neue Anstellungen als Polier im Straßenbau und als Bürokauffrau. Nach der Wende reist die Familie erstmals auch in fremde Länder – nach Italien an den Gardasee, nach Österreich und in die Tschechoslowakei. Kathleen erlebt ihre Eltern dabei als aufgeregt und manchmal etwas unbeholfen, denn bisher fehlte es ihnen an solchen Reiseerfahrungen. Sie selbst nimmt während des Gymnasiums am Schüleraustausch mit Schweden und Frankreich teil, reist zum Sprachunterricht nach England und zur Klassenfahrt nach Holland. Weil ihre Eltern ein Schuljahr in den USA nicht bezahlen können, sucht Kathleen nach dem Abitur eigene Wege und geht als Au Pair für ein Jahr nach Amerika.

        Auslandserfahrungen gehören seit der Wende zu Kathleens Leben. Sie studiert Sprachen, promoviert zur US-amerikanischen Erinnerungskultur und reist regelmäßig in die USA. Die Menschen dort, die Familie ihres spanischen Mannes, aber auch ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen interessieren sich für ihre ostdeutsche Herkunft. Zu der gehört für Kathleen insbesondere die Beobachtung, welcher Bruch der Mauerfall und seine Folgen in den Lebensbiografien ihrer Eltern war. Und zum anderen ein Heimatgefühl, das sie mit ihrer Kindheit in der DDR verbindet und mit ihren Schulfreunden noch immer teilen kann.

        Kathleen lebt heute in Berlin.

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          Cornelia, geboren 1978
          in Ostberlin

          Foto CorneliaW
          „Aber was sollte mit den Lehrern geschehen, die in der Partei waren? Wollte ich von denen weiter unterrichtet werden?“

          Kurzbiografie

          Cornelia wird 1978 in Ostberlin geboren und verbringt ihre Kindheit in den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Marzahn. Die Eltern erziehen sie und ihren Bruder zu kritisch und frei denkenden Menschen, beide Geschwister sind evangelisch getauft. Die Familie schaut Westfernsehen, hört den RIAS und Cornelia findet es albern, dass man das in der DDR nicht darf. Doch die Eltern ermahnen sie, davon in der Schule oder im Sportverein nichts zu erzählen, wenn sie einmal Abitur machen und studieren wolle. Außerdem bekommt sie schon als Kind mit, dass ihr Opa aufgrund seiner Selbständigkeit viele Nachteile hat und es ihm vor allem finanziell schwer gemacht wird. Sie findet das ungerecht und sagt es auch. Ihre Kindheit und Jugend wird beschwert durch große familiäre Probleme, die die Eltern nicht lösen können.

          In der ersten Klasse wird Cornelia bei den Jungpionieren aufgenommen, doch da ist sie nicht gern. Deshalb ist sie erleichtert, dass man ihr erlaubt, an Akrobatikwettkämpfen teilzunehmen, wenn zeitgleich Pionierveranstaltungen stattfinden. Im Herbst 1989 wird Cornelia gerade elf Jahre alt und kommt in die 5. Klasse. Sie freut sich, endlich Physik und Biologie in der Schule zu haben. Auch das rote Halstuch der Thälmann-Pioniere bekommt sie, worauf sie jedoch nicht stolz ist. Nachrichten schaut die Familie selten und wenn, dann im Westfernsehen, denn die „Aktuelle Kamera“ ist allen verhasst. Von den Protesten in Leipzig und Berlin bekommt Cornelia einiges mit, aber versteht noch nicht genau, was da passiert. Zuhause sind die Ereignisse des Herbstes 1989 kein Gesprächsthema. Ähnlich erlebt sie es in der Schule. Die Lehrer scheinen das Thema zu umgehen. Am Tag nach dem Mauerfall geht Cornelia davon aus, dass alles normal weitergeht, dass sie und ihre Mitschüler zum Unterricht kommen und die Eltern zur Arbeit gehen. Tatsächlich fehlen aber schon ein paar Schüler, sogar aus systemtreuen Familien.

          Auch Cornelia interessiert es, wie es in Westberlin, das sie bis dahin nur aus der Ferne hoch oben vom Fernsehturm aus sehen konnte, wirklich aussieht. Gleich am Wochenende gehen ihre Mutter, ihr Bruder und sie zum Grenzübergang an der Berliner Oberbaumbrücke. Dort ist die Schlange wartender Menschen so lang, dass sie erst wieder umkehren wollen. Schließlich stellen sie sich an. Als sie dran sind, mustert sie der Grenzer ausführlich und stempelt ihnen schließlich das Visum in den Ausweis.

          Nach dem Mauerfall strömen all die Eindrücke auf die Familie ein, ohne dass sie Zeit finden, zu verstehen, was die Veränderungen für die Zukunft bedeuten könnten. Immerhin kann man endlich öffentlich sagen, was man denkt. In ihrem Schulalltag stellt sich Cornelia die Frage, ob sie weiter von Lehrern unterrichtet werden möchte, die in der SED waren. Sie findet sie unglaubwürdig. Zweifel hegt sie auch am neuen Unterricht – Biologie und Physik werden plötzlich abgeschafft und in Deutsch und Geschichte hinkt der Westlehrplan, nach dem nun unterrichtet wird, fast ein Jahr hinterher. Mit dem Weg aufs Gymnasium in Marzahn muss sie sich von vielen Mitschülern verabschieden. Sie ist froh, sich in keiner staatlichen Jugendorganisation mehr verpflichten zu müssen, um Abitur machen zu dürfen.

          Durch die Probleme ihrer Eltern gerät die Familie in enorme finanzielle Not. Beide verlieren Anfang der 90er-Jahre ihre Anstellung und sind arbeitslos. Schließlich lassen sich die Eltern scheiden. Doch bis dahin hat die Mutter ihre Zuversicht längst verloren. Gelegentliche ABM-Maßnahmen geben ihr keine Hoffnung mehr, dass sie wieder zurück auf ihren Lebensweg finden kann. Cornelia muss auf einmal die Verantwortung für ihren Bruder und ihre Mutter übernehmen, Telefonate von Ämtern entgegennehmen, Anträge bei den Behörden oder die Steuererklärung ausfüllen. Davon ist sie völlig überfordert. Später weiß sie aus dieser Zeit, dass sie kämpfen kann. Selbständig, wie sie ist, reist sie als Jugendliche ohne Eltern an den Atlantik oder nach London. Und sie entdeckt vor allem die spannende Musik- und Theaterszene im Berlin der Nachwendezeit. Heute ist sie sich sicher, dass sie mit den Leuten in ihrer Clique zu DDR-Zeiten wahrscheinlich keinen Kontakt gehabt hätte.

          Nach dem Abitur bewirbt sie sich an Schauspielschulen, studiert Theaterwissenschaften in Gießen und Film Studies in Reading/UK. Sie arbeitet in einer Produktionsfirma, die sich auf Filme aus dem ehemaligen Jugoslawien und Rumänien spezialisiert hat, und als Dramaturgin in Temeswar/Rumänien.

          Gäbe es die DDR noch, so vermutet Cornelia im Rückblick, wäre sie in der Schule sicherlich angeeckt, weil sie ihren Mund nicht hätte halten können – besonders im Fach Staatsbürgerkunde. Stattdessen hatte sie die Chance, aufgrund ihrer Leistungen Abitur zu machen und zu studieren. Sie hat viele kleine Alltagserinnerungen an ihre Kindheit in der DDR und ihre Jugend in der Nachwendezeit behalten.

          Cornelia lebt heute wieder in Berlin.

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            Daniel, geboren 1982
            in Ostberlin

            Foto DanielK
            „Ich habe als Kind nur selten wirklich mitbekommen, dass es zwei Staaten gab.“

            Kurzbiografie

            Daniel wird 1982 in Ostberlin geboren. Er wächst im Stadtteil Friedrichshain auf. Die Familie wohnt in einem Plattenbau, in dem nur Bedienstete der NVA, bei der auch Daniels Vater arbeitet, eine Wohnung erhalten. Der Nordkiez in Friedrichshain ist aber auch eine Gegend der politischen Opposition. Vom politischen Klima in seinem Umfeld bekommt Daniel nur wenig mit. Für ihn ist der Stadtteil mit seinen Ruinen, den vielen offenen Hinterhöfen und den Kindern dort ein toller großer Spielplatz. Er verlebt eine behütete Kindheit. Dass es noch einen anderen deutschen Staat gibt, spielt für ihn nur selten eine Rolle, zum Beispiel wenn er im Westfernsehen Werbung für bestimmte Spielzeuge sieht. Der Vater erklärt ihm dann, dass er das nicht haben kann, weil es das nur im Westen gibt. Zu seiner Kindheit gehört auch die Erfahrung zu verzichten. Cornflakes gibt es nur für zwei Wochen im Jahr. Um Bananen oder Orangen zu kaufen, stellt sich die Familie an. Leere Regale in der Kaufhalle sind keine Seltenheit. Die Großeltern leben auf einem Bauernhof in der Prignitz in noch viel einfacheren Verhältnissen. An die Besuche sind für Daniel sehr romantische Erinnerungen an das Leben in der ländlichen DDR geknüpft.

            Im Alter von sechs Jahren wird er 1988 eingeschult und lernt den Schulalltag in der DDR kennen. Als er in der zweiten Klasse ist, bricht die DDR zusammen. Die Veränderungen sind für ihn als Kind sehr schwer zu verstehen. Erst als Erwachsener kann er seine Erinnerungen besser einordnen. Zum Beispiel eine Schülerdemonstration für den Musiklehrer, den die Schule entließ, weil er für die Stasi gearbeitet hatte. Für die Schüler ist er der coolste Lehrer von allen und sie wollen ihn zurück. Was die Stasi ist, wissen sie einfach noch nicht.

            Als die Grenzen geöffnet werden, ist Daniel sieben Jahre alt. Er erinnert sich nur bruchstückhaft an die Zeit. Beispielsweise an den ersten Besuch der Familie in Westberlin am Übergang Bernauer Straße. Es gefällt ihm, was es da alles zu kaufen gibt. Bald schon fühlt er sich seinen Eltern voraus, wenn er ihnen all die technischen Neuerungen erklärt, die man nun bekommt. Dass die Veränderungen vor allem eine gesellschaftspolitische Seite haben, versteht er als Kind noch nicht. Zuhause wird darüber nicht geredet, denn die Eltern hatten sich mit dem Staat arrangiert, waren Mitglieder der SED und haben in staatsnahen Berufen gearbeitet. Am 1. Mai 1989 besuchten sie noch die große Maiparade und auch zu den Wahlen waren sie pflichtbewusst gegangen. Daniel erlebt sie in der Zeit des Systemumbruchs sehr angespannt, vor allem seine Mutter, die ihre Anstellung bei der Außenhandelsbank der DDR verliert. Bald schon sind beide Elternteile wieder erwerbstätig und der Lebensstandard der Familie steigt. Der Trabant wird durch einen Lada ersetzt, später fährt man einen Opel Astra. In den Urlaub geht es nun in den Schwarzwald oder nach Österreich. Zuhause empfängt man viele neue Fernsehsender über eine Satellitenantenne, besitzt einen Computer und einen Kleingarten. 1998 zieht die Familie weiter an den Berliner Stadtrand nach Pankow-Buchholz. Der materielle Wohlstand steigt stetig. Die Zufriedenheit mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen nimmt aber nur langsam zu. Daniel erinnert sich, dass man in seinem Umfeld die Westdeutschen, die nun in den Osten kamen, häufig als arrogant empfand. Man hatte Angst, dass sie den Ostdeutschen Grundstücke wegnehmen oder Arbeitsplätze zerstören würden.

            Die Zeit nach der Wiedervereinigung erlebt Daniel als Jugendlicher in Ostberlin als größtmögliche Freiheit. Er probiert sich aus, mal in der Hip-Hop-Skater-Szene, mal bei den Punks. Er kennt aber auch die Drogen-Szene Berlins, bekommt mit, wie Jugendliche daran sterben. Er selbst nimmt nie Drogen. In der Schule sind für ihn mehr und mehr die Zeiten zwischen den Unterrichtsstunden wichtig. Da arbeitet er an der Schülerzeitung mit und merkt, dass man auch in einer Demokratie gegen Widerstände und Bevormundung kämpfen muss. Es ist der westdeutsche Direktor, der den Verkauf einer Ausgabe der Zeitung verbietet.

            Wenn er an die DDR denkt, möchte er seine persönlichen Erinnerungen an das einfache Leben auf dem Land, das heruntergekommene Ostberlin und die Erfahrung von gegenseitiger Solidarität der Menschen bewahren. Gleichzeitig versteht er heute, dass die DDR ein autoritäres System mit weitreichender politischer und sozialer Kontrolle war. In Gesprächen mit seinen Eltern, aber auch Freunden aus dem Westen merkt er immer wieder, wie kompliziert dies alles ist. Er schätzt heute seine Möglichkeiten, eigene Entscheidungen frei treffen, selbst Verantwortung übernehmen sowie die vielen Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft nutzen zu können. Gleichzeitig behält er sich eine kritische Haltung gegenüber dem aktuellen politischen System. Er findet es zum Beispiel erschreckend, dass als Reaktion auf die Sicherheitslage heute in Deutschland wieder mehr Überwachung von Menschen gefordert wird. Er dachte, das sei mit der DDR untergegangen.

            Daniel lebt heute im Landkreis Barnim und arbeitet in Berlin.

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              Susanne, geboren 1978
              in Eisleben

              Foto SusanneS
              „Freiheit hat ihren Preis.“

              Kurzbiografie

              Susanne wird 1978 in Eisleben geboren. Sie verbringt eine behütete und glückliche Kindheit in einem kirchlich geprägten Umfeld. Die Eltern sind Mitglieder der evangelischen Kirche und schicken sie in den Kindergarten der Gemeinde, in die Christenlehre, in den Musikunterricht und den Kinderchor der Kirche. Sie geht außerdem in die Musikschule, um Geige zu lernen. Fast das ganze Leben fand in der Kirche statt, sagt sie: Aufwachsen, Freunde, Freizeit. Die Eltern behalten ihren Unmut über das politische System außerhalb des kirchlichen Umfeldes für sich, sie passen sich an. Auch Susanne: Sie ist bei den Jungen Pionieren, wird dort mehrmals Gruppenratsvorsitzende. Ihre ältere Schwester hingegen beschließt, sich der Jugendweihe zu verweigern. Die Klassenlehrerin rät ihr, ohne zu drohen, davon ab, wenn sie die EOS besuchen möchte. Susanne weiß, dass sie diesen Mut nicht gehabt hätte.

              Susannes Familie hat viele Verwandte und Bekannte in Westdeutschland. Sie unterstützen die Familie materiell und führen mit den Eltern politische Diskussionen. Dass sich 1989 etwas ändert, bemerkt Susanne am Verhalten ihrer Eltern. Zum ersten Mal nutzen diese bei der Kommunalwahl die Wahlkabine und machen den Wahlzettel ungültig. Am 1. Mai gehen sie nicht zur offiziellen Parade. Auch das Massaker an den Demonstranten gegen die kommunistische Regierung in China, von dem die Familie im Sommerurlaub 1989 aus dem Fernsehen erfährt, besprechen die Eltern offen mit ihren Kindern.

              Die Friedliche Revolution erlebt Susanne in der Gemeinde mit: die Friedensgebete, die Demonstrationen, den Aufbruch der Menschen und den Umbruch der politischen Strukturen nach dem Mauerfall. Einmal spricht ihre Mutter während eines Friedensgebetes eine Fürbitte für die Kinder in der DDR, die in der Schule zum eigenständigen Denken befähigt werden sollen. Susanne übermalt und korrigiert die zehn Gebote der Jungpioniere in ihrem Pionierausweis mit einem roten Filzstift. Über den Wegfall des Unterrichts am Sonnabend jubelt sie. Doch vor der ersten Fahrt in den Westen, bekommt sie solche Angst vor dem Grenzübertritt, dass sie krank wird und zu Hause bleiben muss.

              Als im März 1990 die ersten freien Wahlen in der DDR bevorstehen, wird inzwischen auch in der Klasse heftig über die politischen Parteien gestritten, unter denen Susanne die SPD bevorzugt, viele andere Mitschüler die CDU.

              Das Ende der DDR erlebt Susanne als das Ende ihrer behüteten Kindheit und als Beginn einer zum Teil unglücklichen Jugend. Ihre beiden engsten Freunde ziehen bald in den Westen. Ihr Vater ist oft nicht zu Hause, er arbeitet im Westen auf Montage. Später versucht er es mit einer eigenen Firma, aber die geht Pleite. Die Mutter ist nun die Hauptverdienende der Familie.

              Zu schnell habe sie erwachsen werden müssen, sagt Susanne heute. Die vielen Wahlmöglichkeiten hätten sie gelähmt, statt sie zu beflügeln. In ihren Augen ist der Systemwechsel ein Glück, aber die Freiheit hatte ihren Preis.

              Susanne lebt heute in Brandenburg an der Havel.

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                Marius, geboren 1980
                in Weimar

                Foto MariusK
                „Die Demokratische Revolution von 1989 zeigt, dass es möglich ist, die Welt zu verändern.“

                Kurzbiografie

                Marius wird 1980 in Weimar geboren und wächst in Neuruppin auf. Er durchläuft als Kleinkind die staatliche Kinderkrippe, einen christlichen Kindergarten und wird nach der Einschulung bei den Jungpionieren aufgenommen. Zu den Erinnerungen an seine Kindheit gehört, sich draußen mit den Nachbarskindern herumzutreiben, Buden zu bauen und Urlaube bei der Oma in Rostock.

                Im Herbst 1989 ist Marius neun Jahre alt. Seine Erinnerungen an diese Zeit sind bruchstückhaft. Die Demonstrationen und Friedensgebete gehören dazu. Der Vater beteiligt sich im neu gegründeten Neuen Forum, druckt Flugblätter auf einer Ormig-Maschine. Die Oma dagegen will nicht verstehen, warum von DDR-Flüchtlingen die Rede ist, denn wovor hätten die DDR-Bürger denn Grund zu fliehen? Marius wünscht sich in diesen Tagen eine Maus als Haustier und ahnt nicht, dass seine Mutter gerade ganz andere Sorgen hat: Der Vater war „zur Klärung eines Sachverhalts“ abgeholt worden.

                An die Nacht des Mauerfalls erinnert sich Marius nicht mehr, aber an die erste Fahrt nach Westberlin kurz darauf zur Großtante in Spandau. Dass er seine Tante dort unbedingt in den Supermarkt begleiten will, kann sie nicht verstehen. In der Schule gibt es zu der Zeit Ärger für eine Mitschülerin: Die Eltern hatten sie krankgemeldet, tatsächlich aber ist die Familie des Mädchens in den Westen gefahren. Und auch Marius erhält eine Rüge, als er sich über das Pionierhalstuch eines Klassenkameraden lustig macht.

                In den 1990er-Jahren beobachtet Marius, wie seine Eltern versuchen, berufliche Stabilität zu erlangen. Der Vater geht in die Stadtverwaltung und die Mutter hat immer wieder wechselnde Stellen. Auch an Umschulungen nimmt sie teil. Die Familie kauft ein Haus und übernimmt sich damit finanziell. Am Ende schaffen sie es aber doch, über die Runden zu kommen.

                Für Marius sind die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung geprägt vom Erwachsenwerden, vom Wechsel ans Evangelische Gymnasium und davon, dass sich Jugendliche nun „rechts“ oder „links“ positionieren und dabei aneinandergeraten.

                Sein frühester Berufswunsch ist Schriftsteller. Nach dem Abitur entscheidet er sich dann für ein Studium der Neueren und Neuesten Geschichte in Berlin.

                Als Jugendlicher macht Marius die Erfahrung, dass es auch nach dem Ende der DDR staatliche Versuche gibt, sich über demokratische Spielregeln hinwegzusetzen. Diesmal ist es die Bundeswehr, die gegen den Widerstand einer ganzen Region versucht, die Kyritz-Ruppiner Heide weiter militärisch zu nutzen. Der Erfolg der Proteste gegen das „Bombodrom“ und die Demokratische Revolution von 1989 sind für ihn eine Ermutigung, dass sich die Welt verändern lässt.

                Heute lebt und arbeitet Marius in Brandenburg an der Havel.

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                  Maria, geboren 1977
                  in Potsdam

                  Foto MariaB
                  „Ich habe Zuhause Dinge aus der Schule vertreten, die meine Eltern total ablehnten.“

                  Kurzbiografie

                  Maria ist 1977 in Potsdam geboren. Sie wächst in Falkensee auf, das damals zur DDR gehört, aber nah an Westberlin liegt. Oft fährt sie mit ihrer Familie nach Potsdam. Dann sieht sie im Vorbeifahren die Lichter der Hochhäuser von Spandau (Westberlin), die für sie jedoch unerreichbar bleiben.

                  Ihr Kindheitsgefühl ist geprägt von der Erinnerung an zwei getrennte Leben – ein privates und eines in der Schule: Vieles, was zu Hause besprochen wird, darf in der Schule nicht erzählt werden. Manch wichtige Entscheidung für ihr Leben trifft der SED-Staat für sie, beispielsweise die, dass Maria später nicht das studieren darf, was sie will. Denn ihr Vater ist aus der SED ausgetreten und dadurch wird vieles schwierig oder gar unmöglich. Maria ist eine interessierte Pionierin und aktiv im Gruppenrat. Ihre Eltern gehen wenig mit dem DDR-Regime konform. In der siebten Klasse, in die sie 1989 geht, entsteht so zum ersten Mal Unfrieden in der Familie aufgrund von Meinungsverschiedenheiten: Maria vertritt Ansichten, die sie im Staatsbürgerkundeunterricht lernt und die ihre Eltern ablehnen.

                  Den Herbst 1989 erlebt Maria als eine Zeit des Aufbruchs. Neues und Unerhörtes liegt in der Luft. Diese Zeit verfolgt sie sehr aufmerksam und schreibt die Meldungen, die in diesen Wochen in den Nachrichten kommen, in ihr Notizbuch.

                  Als die Grenzübergänge geöffnet werden, ist sie eine der wenigen, die am nächsten Tag zur Schule gehen. Fast alle Schüler ihrer Schule besuchen Westberlin, da Falkensee nicht weit entfernt vom Grenzübergang in Spandau liegt. Auch Marias Eltern fahren mit ihr in den ersten Tagen nach der Maueröffnung nach Westberlin zum Schloss Charlottenburg. Von dem Begrüßungsgeld darf sich jeder der Familie etwas im Wert von fünf Westmark aussuchen. Der Rest wird gespart. Ein Gefühl der absoluten Überforderung bleibt bei Maria an diesen Besuch in Westberlin in Erinnerung.Das liegt vor allem riesigen Auswahl an Dingen, die sie noch nie zuvor erlebt hat.

                  Mit dem Fall der Mauer verändert sich für Maria vieles. Vor 1989 konnte sie sich ihre Zukunft kaum vorstellen, da für sie klar war, dass sich ihr Berufswunsch nicht erfüllen würde. Das ändert sich mit dem Mauerfall schlagartig. Nun kann sie sich ihre weiterführende Schule selber aussuchen. Sie wollte immer Sprachen lernen und später Archäologie studieren. Deshalb wählt sie ein altsprachliches Internat in Naumburg.

                  Von der Zeit Anfang der 1990er-Jahre in Naumburg hat Maria vor allem den starken Konsumwunsch der Menschen aus Ostdeutschland in Erinnerung. Und sie hat den Eindruck, dass die Ideen von einer anderen, politisch alternativen Transformation des Landes von diesem Konsumwunsch überrannt wurden. Soziale und rechtliche Werte, aber auch die Wertschätzung materieller Dinge gingen verloren. So beobachtet sie in dieser Zeit, wie in Naumburg die Menschen jedes Wochenende Massen an Dingen für den Sperrmüll auf die Straßen stellen, aber gleichzeitig auch viel konsumieren.

                  An die Veränderungen in der Schule erinnert sich Maria ebenso. Ihre Lehrer nimmt sie als unsicher wahr. Fächer fallen aus und in vielen Stunden gibt es eine „freie Diskussion“, bei der die Schüler die Themen aussuchen und diskutieren. Richtiger Unterricht findet meist nur noch in Fächern wie Mathe oder Chemie statt.

                  Im Gegensatz zu all den vielen Veränderungen in ihrem Umfeld nach dem Fall der Mauer gibt es in ihrer Familie kaum Umbrüche – so behalten insbesondere ihre Eltern ihre Arbeit.

                  Heute lebt Maria in Berlin.

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                    Dörte, geboren 1978
                    in Pritzwalk

                    Foto DörteG
                    „Nach dem Mauerfall kam eine Zeit wie im rechtsfreien Raum. Wir haben unsere Grenzen ausgetestet.“

                    Kurzbiografie

                    Dörte wird 1978 in Pritzwalk geboren. Sie wächst am Stadtrand von Wittstock auf, spielt meist draußen im Wald. Sie erlebt eine freigeistige Erziehung. Zuhause darf sie sagen, was sie will, tanzen und fernsehen. Dass das in der Schule anders sein muss, weiß sie – findet es aber normal.

                    Von ihren Eltern lernt sie, dass Gleichheit und Gerechtigkeit wichtig sind. Für sie ist es klar, dass die Arbeit eines Arbeiters genauso wertvoll ist wie die Arbeit eines Produktionsleiters oder eines Lehrers.

                    Dem SED-Staat stehen ihre Eltern distanziert gegenüber. Sie tragen hohe Verantwortung in ihren Produktionsbetrieben, sind jedoch kein Mitglied in der SED. Auch ihre Tochter versuchen sie dem staatlichen Erwartungsdruck zu entziehen. Als Dörte, die regelmäßig Leichtathletik in einem Sportverein trainiert, für die Sportschule abgeworben werden soll, sind die Eltern dagegen und lehnen ab.

                    1988 bekommt die Familie Besuch von Verwandten aus Kanada. Die Verwandten stellen ihre Sicht auf die Missstände in der DDR dar: Autos aus Pappe, die Wirtschaft am Ende, die Menschen im Land eingesperrt. Als Dörtes Mutter ein halbes Jahr nach dem Verwandtschaftsbesuch die Erlaubnis erhält, die kanadischen Familienangehörigen zu besuchen, überlegen Dörtes Eltern auch, einen Ausreiseantrag zu stellen. Soweit kommt es nicht mehr, denn ein Jahr später fällt die Mauer. Dieses Ereignis feiern ihre Eltern mit Begeisterung. Am 9. November 1989 sind Dörte und ihre Eltern für einen Opernbesuch in Berlin. Sie sehen die vielen Leute auf der Straße, können sich aber nicht erklären, was passiert. Auf dem Heimweg nach Wittstock erfahren sie dann über die Radionachrichten, dass die Grenzübergänge in Berlin geöffnet wurden. Fortan beginnen ihre Eltern, von der Zukunft zu träumen.

                    Auch Dörtes Familie fährt in jener Zeit „in den Westen“ und sie bekommt vom Begrüßungsgeld einen Walkman. „Musik“, so sagt sie, „wurde zu einem großen Teil meines Lebens“.

                    1990 kommt Dörte aufs Gymnasium, was nicht ohne Folgen für ihre Freundschaften in ihrem Wohngebiet bleibt. Nun macht man Unterschiede zwischen „besser“ und „schlechter“ und nicht alle Freundschaften halten. Und es ist auch die Zeit, in der sich ihr Freundeskreis politisiert. Viele sympathisieren mit der rechten Szene, ohne zu wissen, was das bedeutet. Das Wissen über die NS-Geschichte und den Holocaust, sagt Dörte, erhält sie erst ab der 8. Klasse.

                    Die Anfangseuphorie der Eltern über die Wende ist 1992 schon verflogen. Für Dörtes Vater gibt es einige Zeit keine Arbeit im Betrieb und damit auch keinen Lohn. Die Mutter muss den Konkurs eines Großbetriebes mitverwalten. Sie ist eine der Letzten, die entlassen werden. Ehemalige Kollegen gehen ihr aus dem Weg. Zudem erfahren die Eltern, dass einer ihrer besten Freunde als IM für die Staatssicherheit tätig war.

                    Für Dörte ändert sich nach 1989 vieles. Dem Schulwechsel folgen Lehrplanumstellungen, der Verlust von Freundschaften, der innere und äußere Drang, einer Gruppe zuzugehören und das persönliche Bedürfnis, sich gegen Neonazis abzugrenzen. Vor allem ist es für sie eine Zeit im rechtsfreien Raum. Die Weichen werden neu gestellt, aber keiner weiß, was das im neuen System bedeutet. 

                    Die Zeit Mitte der 1990er-Jahre ist für Dörte erneut von großen Veränderungen geprägt. 1994 zieht die Familie nach Pritzwalk und 1997 geht sie zum Studium nach Berlin. Zu den größten Freiheiten, die sie in der Zeit nutzt, zählt Dörte vier Auslandsaufenthalte in Südamerika.

                    Der Mauerfall und die damit verbundene Erfahrung, in zwei verschiedenen Systemen aufzuwachsen, hat Dörte nachhaltig geprägt. Sie schätzt die Vorteile der Demokratie. Die Härte des freien Marktes durch den Kapitalismus führt sie persönlich jedoch dazu, sich oft die Systemfrage zu stellen. Sie wünscht sich nicht den Sozialismus zurück, fragt sich aber, in welchem politischen System die Menschen ein gutes Leben führen könnten.

                    Heute lebt Dörte in Berlin und arbeitet seit 2008 als freiberufliche Autorin und Filmemacherin.

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